Rumzappeln, laut sein, auffällig: Das Bild vom hyperaktiven ADHSler ist bekannt. ADHS-I, also der unaufmerksame Typus, eher weniger. Chronik eines stillen Leidens.
Dieser Blog ist eine Mischung aus eigenen Erfahrungen – und der Übersetzung anderer Texte von englischsprachigen Autoren. Wieso das Kuddelmuddel? Einerseits fehlt gerade etwas die Energie zum Bloggen – und man möchte es sich etwas einfacher machen. Andererseits sind die Erlebnisberichte von Menschen mit ADHS-I, also «inattentive type», sich dermassen ähnlich, dass sie bisweilen effektiv fast austauschbar sind.
Ich hatte meine ADHS-Diagnose kurz vor dem Scheitern einer langjährigen Beziehung, im Alter von 38 oder 39 Jahren. Sie war eine Erleichterung – denn der Diagnose waren gewisse Exkurse in – sagen wir mal – «nicht so gesunde Substanzen» vorausgegangen. Dazu muss man sagen, dass Stoffe, die Neurotypische ganze Nächte durchtanzen lassen, bei ADHSlern bis zu einer beträchtlichen Dosis einfach nur beruhigend, einmittend, ausgleichend wirken.
Geben Sie, was auch gemacht wird, einem Kampfpiloten genügend Amphetamin – und er wird hellwach viele Stunden funktionieren wie (s)eine Maschine. Tun Sie dasselbe mit einem ADHSler – und Sie laufen Gefahr, dass er am Steuerknüppel ein Nickerchen macht. Auch ein doppelter Espresso vor dem Schlafengehen ist überhaupt kein Problem.
Der Tagträumer: Merkmale des unaufmerksamen ADHS
Unaufmerksames ADHS bedeutet einfach ausgedrückt, dass Ihr Gehirn nicht weiss, worauf Sie sich konzentrieren sollen. Das ist die tagträumende Art von ADHS – also nicht die Art, bei der man partout nicht stillsitzen kann. Es ist zudem nicht so, dass man sich überhaupt nicht konzentrieren kann. Dinge, die superdringend sind oder einen extrem fesseln, können einen sogar in einen wahren «Hyperfokus» versetzen. Dann können Sie es aber auch vergessen, sonst noch etwas um sich herum mitzubekommen – oder aber Termine einzuhalten, an die Sie nicht mit lautem Alarmton erinnert werden.
«Ha, das geht uns doch allen so mit dem Interesse!», melden sich an dieser Stelle gerne die Klugscheisser. Nein, das tut es nicht – nicht in diesem enormen Ausmass. Mehr dazu, nämlich zu den grob gesagt zwei Aufmerksamkeitszentren im Gehirn, finden Sie in diesem Artikel hier.
Menschen mit ADHS-I sind also die Tagträumer par excellence. Die «Hans-Guck-in-die-Lufts», die «Fensterkinder» und «Fantasten». Gleichzeitig verknüpfen sie problemlos und sofort Gedanken aus diversen Themenfeldern, was vielen Neurotypischen erst mit einem Mind Map und einigem Zeitaufwand gelingt.
Routinearbeiten: Der leise Tod auf Raten
Für Menschen mit unaufmerksamem ADHS sind sich wiederholende Aufgaben so langweilig, dass sie geistig anstrengend und letztlich stressend bzw. regelrecht qualvoll werden. Doch bei den Aufgaben, die Sie brennend interessieren, können Sie acht Stunden lang kaum etwas von der Aussenwelt sehen oder hören.
Sie haben zudem ein schlechtes Arbeitsgedächtnis. Ihre Fähigkeit, zwei oder drei Informationen gleichzeitig im Kopf zu behalten und später umzusetzen, ist begrenzt. Wenn Sie am Computer tippen und jemand Sie bittet, sich daran zu erinnern, jemanden anzurufen, werden Sie zwar nicken und «ja» sagen. Sie werden auch aktiv versuchen, sich daran zu erinnern – aber die Information wird nie gespeichert. Nehmen Sie zwei Dinge mit in den Bus, aber lassen Sie sie bloss nicht los. Denn was in der Gepäckablage oder auf dem Nebensitz landet, wird oft ohne Sie weiterfahren. Als ADHS-I-Betroffener könnten Sie sich lange Karibikferien leisten vom Gegenwert der Dinge, die Sie in Ihrem Leben bereits liegengelassen haben.
Ihr Langzeitgedächtnis kann hingegen hervorragend sein. Erinnerung an den Inhalt eines Filmes vor 30 Jahren? Kein Problem, wenn der Film irgendwie spannend war. Genaueste Vorstellung vom Gespräch mit dem Partner vor 5 Jahren. Ja, auch das – wenn es emotional etwas bedeutet hat.
Wenn der Dirigent seinen Job nicht macht...
Mit ADHS-I verbunden ist auch eine Schwäche des prospektiven Gedächtnisses. Beim prospektiven Gedächtnis geht es darum, sich gut zu erinnern «sich zu erinnern». Das Problem bei Aufgaben ist ja, dass sie meist zu einer bestimmten Zeit erledigt werden müssen.
«Ich muss diese Rechnung bezahlen, wenn ich nach Hause komme.»
«Ich muss mein Mittagessen einpacken, wenn ich zur Arbeit gehe.»
«Ich muss um die Mittagszeit zur Post gehen.»
Bei unaufmerksamem ADHS speichert man diese Informationen wie eine Antwort auf eine triviale Frage, nicht wie eine Notiz in einem Tagebuch. Selbst wenn ich mich also mehrmals daran erinnert habe, dass ich mein Mittagessen in meine Tasche packen muss, bevor ich zur Arbeit gehe, kommt mir der Gedanke danach öfter einfach nicht in den Sinn.
Auch die Exekutivfunktionen sind bei ADHS-I oft mangelhaft. Das heisst, das eigene Gehirn ist wirklich schlecht darin, einen durch eine Reihe von Teilaufgaben zu leiten, um so die Hauptaufgabe zu erledigen. Es kann zwar jede Teilaufgabe gut erledigen – aber es scheint keinen Verantwortlichen zu geben, der einen durch die einzelnen Schritte führt. Die exekutiven Funktionen werden oft auch als «Dirigent des Gehirns» bezeichnet – und sind im präfrontalen Cortex (Stirnhirn) verankert. Schädeltraumata oder Gehirntumore im Stirnhirn können bei Nicht-ADHSlern übrigens zu ähnlichen kognitiven Mängeln führen.
Fazit: Stilles Leiden, aber nicht weniger gravierend
Nein, da flogen keine Stühle herum, als Sie Kind waren. Als Schreihals sind Sie ebenfalls nie aufgefallen (ADHS-HI, hyperaktiv). Vielleicht hatten Sie in der Schule sogar hervorragende Noten – und später haben Sie Ihren Uni- oder Fachhochschulabschluss gemacht. Doch Sie kennen das tägliche Lied vom leidigen Suchen, die ewige Getriebenheit, die kleinen Dramen der verlorenen Gegenstände, die Kritik an Ihrer Unaufmerksamkeit und/oder Impulsivität.
Oder Sie haben eine bzw. mehrere depressive Episoden hinter sich, bevor ADHS endlich diagnostiziert wurde. Nehmen sie noch ein bis zwei gescheiterte Beziehungen dazu, weil die Diagnose noch nicht stand – oder sich der Partner/die Partnerin einen Sch… darum geschert hat (fehlende Empathie, Egoismus). Hauptsache, maNN funktioniert. Nein, eigentlich nicht. Denn das tun wir zwar durchaus – aber eben anders als die Mehrheit (also ca. 95% der Menschen).
Ja, ADHS – eben auch der unaufmerksame Typus – kann Ihnen so einiges «versauen». Handkehrum kann es auch eine unerschöpfliche Quelle von grosser Kreativität sein. Und in Extremfällen dürften Sie einen Kampfgeist entwickeln, der viele Ihrer Mitmenschen erblassen lassen wird. Denn für Ihre inneren Werte geben Sie alles und tolerieren Sie sehr vieles. Näher dran am Steinzeitgehirn halt ("Hunter Brain"). Und das ist doch irgendwie beides schon mal nicht so schlecht, um den morgigen Tag in Angriff zu nehmen.