Evolution, Körper, Gehirn: Die verborgenen Mechanismen von ADHS
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ADHS zeigt sich nicht nur im Verhalten, sondern auch im Körper. Ein Blick auf die Besonderheiten im Organismus von Betroffenen – übersichtlich und leicht verständlich.
ADHS und der Gehirn-Botenstoff Dopamin hängen eng zusammen. Dopamin ist – bei allen Menschen – der Neurotransmitter, der Motivation und Impulskontrolle steuert. Bei Menschen mit ADHS arbeitet dieses System anders: Der Dopaminspiegel sinkt schneller ab, weil der Stoff in den Synapsen (Kontakt-Strukturen zwischen den Nervenzellen im Gehirn) rascher abgebaut wird.
Das erklärt typische Symptome wie Unruhe, Ablenkbarkeit und Impulsivität. Auch das Belohnungssystem gerät aus dem Gleichgewicht. Dinge, die andere motivieren, bleiben bei ADHS weitgehend wirkungslos. Stattdessen suchen viele Betroffene intensivere Reize.
Dopamin beeinflusst aber längst nicht nur das Gehirn, sondern auch körperliche Funktionen wie Herzschlag, Temperatur-Regulation und Schwitzen. Viele Menschen mit ADHS berichten von extremer Hitze- oder Kälteempfindlichkeit, häufigem Schwitzen oder plötzlichem Frösteln.
ADHS & Nervensystem: Tendenz zu Dauerstress im Körper
Das Nervensystem von Menschen mit ADHS ist oft in einem "Kampf-oder-Flucht"-Modus. Das sympathische Nervensystem bleibt überaktiv, auch ohne äusseren Stress. Puls und Blutdruck sind erhöht, der Körper arbeitet auf Hochtouren. Gerade Langeweile, also die Abwesenheit von Stimuli, führt zu Stress bei ADHSlern. Ihr Gehirn ist zu wenig gefordert. Wird hingegen an etwas gearbeitet, das Betroffene als spannend empfinden, ist die Ausdauer fast endlos – und Körper wie Laune sind im Gleichgewicht (Homöostase).
"Aber das geht doch allen bisschen so": Ja, das stimmt. Aber eben nicht so extrem. Ein guter Vergleich ist eine Herdplatte. Wo Neurotypische ihre 5 bis 10 Stufen zur Regelung zur Verfügung haben, sind es bei ADHSlern eher 3 bis 5, öfter auch bloss 2: Ganz präsent/hyperfokussiert oder tagträumend/abwesend.
Eine andere Metapher ist "Lamborghini mit Velobremsen". Wenn es mal richtig läuft, ist das Rausnehmen von Energie bei ADHS schwieriger als bei Neurotypischen. Zudem ist das Auto zwar ein Power-Wunder, aber nicht besonders sparsam beim Treibstoffverbrauch (siehe aktiverer Metabolismus im Fall ADHS-Körper).
Diese Hyperaktivität erklärt, warum Betroffene sich schnell ausgelaugt fühlen. Selbst kleine Belastungen können dann den Körper überfordern. Das "gegen die eigene Natur arbeiten" führt zu dieser Müdigkeit. Oft der Fall bei Routineabläufen, langweiligen Sitzungen und Formularen etc. Das macht Erholungspausen im Alltag umso wichtiger.
Das Immunsystem von Menschen mit ADHS
Diverse Studien zeigen, dass die Immunabwehr bei ADHS-Betroffenen aktiver ist. Entzündungswerte wie IL-6 und TNF-alpha sind erhöht. Gleichzeitig scheinen Betroffene seltener schwer zu erkranken, selbst bei Infektionen. Allerdings sind Immunsystem und neuronale Funktionen Themen, die an Komplexität kaum zu überbieten sind. Sogar bei der künstlichen Intelligenz "Chat GPT" wissen die Erfinder inzwischen nicht mehr, wo genau sie wie funktioniert – nur DASS sie funktioniert.
Doch diese erhöhte Aktivität hat auch Schattenseiten: Eine verstärkte Immunreaktion kann das Risiko für Autoimmunerkrankungen oder chronische Entzündungen erhöhen.
Stoffwechsel und Energie: Warum ADHS-Betroffene schneller ermüden
Der Stoffwechsel von Menschen mit ADHS läuft oft auf Hochtouren. Der Energieverbrauch ist dadurch erhöht, da die Leber schneller arbeitet. Viele berichten von plötzlichem Hunger und Heisshungerattacken, wenn der Dopaminspiegel absinkt.
Diese Stoffwechsel-Besonderheiten führen dazu, dass intensive mentale Aufgaben schnell erschöpfen. Zudem "spart" das Stirnhirn von ADHSlern beim Verbrauch von Glucose, dem "Treibstoff für das Denken". Das mag effizient sein, in einer modernen Gesellschaft mit genug Nahrung aber eben auch unnötig. Regelmässige Energiezufuhr und bewusste Pausen helfen darum sehr, den Alltag besser zu meistern.
ADHS und Evolution: Die Hunter-Gatherer-Theorie
Warum gibt es ADHS überhaupt? Die sogenannte Hunter-Gatherer-Theorie liefert eine mögliche evolutionäre Erklärung. Sie besagt, dass ADHS in der Jäger-Sammler-Zeit von Vorteil war.
Jäger profitierten von Schnelligkeit, Impulsivität und Rundum-Wachsamkeit in den alten Hirnteilen/partiellem Hyperfokus im Stirnhirn (statt wenig Aktivität der alten - warnenden - Hinteile und durchgehend mögl. Fokus des Stirnhirns). Sammler nutzten Hyperfokus und Neugier/360-Grad-Offenheit, um neue Ressourcen zu entdecken. Beide Gruppen mussten indes stets auf der Hut sein vor Gefahren, wie Raubtieren. Diese Eigenschaften, die heute oft als "Symptome" gelten, waren in der Vergangenheit Überlebensvorteile.
Auch heute zeigen Betroffene oft schnelle Reaktionen, kreative Ansätze und unermüdlichen Tatendrang – Eigenschaften, die in vielen Bereichen wertvoll sind. Kurz gesagt sind ADHSler gemäss dieser Theorie die Nachfahren der Jäger und Sammler von gestern. Die braucht es in einer Zeit der Supermärkte aber kaum mehr...
ADHS und das Thema Temperatur-Regulation
Viele Menschen mit ADHS haben Schwierigkeiten mit ihrer Temperatur-Regulation. Das ist auch naheliegend: Die Dopaminregulation im Gehirn beeinflusst den Hypothalamus, das Kontrollzentrum für Körpertemperatur.
Betroffene berichten von starkem Schwitzen bei geringem Stress oder aber plötzlichem Frösteln. Diese Besonderheiten erfordern mehr Achtsamkeit im Umgang mit körperlichen Belastungen. Bei uns, in gemässigtem Klima (mit heissen Sommern) dürfte öfter die Hitze das Problem sein. Andere Genetik, gewöhnt an die Hitze, dürfte sich mit Kälte schwertun.
Resilienz trotz ADHS: Wie der Körper sich schützt
ADHS-Betroffene zeigen oft eine erstaunliche Widerstandsfähigkeit. Manche erkranken seltener schwer und scheinen Infektionen schneller zu überstehen. Gleichzeitig treten stressbedingte Beschwerden wie Reizdarm oder Spannungskopfschmerzen dafür häufiger auf. Das gilt auch für Depressionen und Suchtprobleme: Viel häufiger. Die Medizin spricht hier aber von "Komorbiditäten", also Begleiterkrankungen. Wenn ADHSler nicht gemäss ihren natürlichen Veranlagungen leben können, führt der Frust und die Überforderung daraus längerfristig zu Angstproblemen, depressiver Verstimmung oder eben Substanzmissbrauch.
ADHS zeigt, wie eng Widerstandskraft und Verwundbarkeit verknüpft sind. Der Schlüssel liegt in einem bewussten Umgang mit den eigenen körperlichen und mentalen Ressourcen.
Zusammenfassung: ADHS verstehen – von Kopf bis Körper
ADHS beeinflusst Gehirn, Körper und Stoffwechsel auf vielfältige Weise. Dopamin, das Nervensystem und evolutionäre Mechanismen erklären viele Symptome und Besonderheiten.
Wer ADHS hat oder vermutet, kann durch gezielte Massnahmen seinen Alltag erleichtern. Ein fundierter ADHS-Test oder eine genaue ADHS-Diagnose helfen, die eigenen Stärken und Herausforderungen besser zu verstehen.
Sicher ist: ADHS ist viel mehr als eine "Störung" – es birgt einzigartige Fähigkeiten, die im richtigen Umfeld zur grossen Stärke werden.
Ergänzung: Fachstellen, Verbände und Vereine zu ADHS
Wenn Sie sich intensiver mit ADHS auseinandersetzen oder Unterstützung suchen möchten, finden Sie bei diesen Fachstellen und Verbänden/Vereinen wertvolle Informationen und Unterstützung:
SCHWEIZ
- elpos Schweiz: Unterstützung und Beratung für Eltern und Betroffene von ADHS. Neben regionalen Beratungsstellen bietet elpos auch Veranstaltungen und Weiterbildungsmöglichkeiten. www.elpos.ch
- ADHS 20+: Ein Verein speziell für Erwachsene mit ADHS. Schwerpunkte sind Austausch, Beratung und Förderung der Selbsthilfe. www.adhs20plus.ch
- ADHS/ADS Schweiz: Informationsplattform und Netzwerk für Betroffene und Fachpersonen. Angeboten werden Kurse, Vorträge und Begleitung. www.ads-adhs.ch
DEUTSCHLAND
- ADHS Deutschland e.V.: Einer der grössten Verbände für ADHS in Deutschland. Mit Informationen zu Diagnostik, Therapie und Alltagshilfe für Kinder, Jugendliche und Erwachsene. www.adhs-deutschland.de
- Zentrales ADHS-Netz: Bundesweites Netzwerk zur Unterstützung von Betroffenen und Angehörigen, mit einem Fokus auf Wissensvermittlung und regionaler Hilfe. www.zentrales-adhs-netz.de
- ADHS Infoportal: Fachportal des Deutschen Instituts für Medizinische Dokumentation und Information (DIMDI) mit umfangreichen Informationen zu Diagnostik, Behandlung und Forschung. www.adhs.info
All diese Organisationen helfen dabei, ADHS besser zu verstehen und passende Unterstützung zu finden – ob für Kinder, Jugendliche oder Erwachsene.
FAQ: Was Sie (vielleicht) schon immer wissen wollten
1. Wie beeinflusst ADHS den Körper, über das Gehirn hinaus?
ADHS wirkt nicht nur auf das Verhalten, sondern auch auf den Körper. Ein Beispiel ist die Temperaturregulation: Betroffene leiden oft unter Hitze - oder haben eine Kälteempfindlichkeit, was auf ihre veränderte Dopaminregulation zurückzuführen ist. Zudem zeigt sich ADHS durch einen erhöhten Energieverbrauch und häufigere Stressreaktionen im gesamten Organismus.
2. Gibt es evolutionäre Vorteile von ADHS?
Ja, die Hunter-Gatherer-Theorie von Thom Hartmann erklärt ADHS als evolutionären Vorteil in der Jäger-Sammler-Zeit. Schnelle Reaktionen, Hyperfokus und Wachsamkeit halfen demnach früher beim Überleben. Heute sind diese Eigenschaften weniger notwendig, können aber in kreativen oder dynamischen Umfeldern eine grosse Stärke darstellen.
Diverse Versuche/Studien sowie genetische Forschung zu Neandertalern haben diese (ursprünglich von einem Journalisten geäusserte) Theorie erhärtet. Inzwischen findet sie immer mehr Anklang bei Psychologen und Biologen/Anthropologen.
3. Warum suchen Menschen mit ADHS intensivere Reize?
Das Belohnungssystem im Gehirn von Menschen mit ADHS ist weniger empfindlich gegenüber alltäglichen Anreizen und verabscheut Abläufe, die immer exakt gleich sind. Der schnellere Abbau von Dopamin in den Synapsen von ADHSlern führt dazu, dass sie viel weniger von aussen (extrinsisch) motivierbar sind - wenn die Motivations-Trigger nicht ihren Interessen entsprechen.
Auch die Impulskontrolle fällt ihnen oft schwerer (od. Impulse werden jahrelang unterdrückt, um "ins System zu passen"). Um ihrer Neurodiversität Genüge zu tun, suchen Betroffene häufig nach stärkeren, aufregenderen Reizen.