ADHS: Anders denken hat Stil – wenn man damit durchkommt
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Menschen mit ADHS sind noch in den Startlöchern, was die gefühlte Akzeptanz in der Gesellschaft angeht. Das hat mit Denkfaulheit ebenso zu tun wie mit erfolgreichem Verdrängen. Ein Essay wider die Gleichmacherei.
Extreme machen Eindruck. Ich wurde mir dieser Tatsache zum ersten Mal bewusst, als ich 7 Jahre alt war. Als ADHS-Kind des Öfteren gehänselt, bedroht und mit verstecktem Turnzeug konfrontiert, war bereits eine gewisse Toleranz da, was die Behandlung angeht, die man heute «Mobbing» nennt. Mit dieser Toleranz muss auch der Junge gerechnet haben, der vor meinem Pult stand und genüsslich meinen goldenen Caran d’Ache-Farbstift in zwei Teile zerbrach. Betont langsam, so dass die Zerstörung gewissermassen in Zeitlupe sichtbar würde.
Nicht in Zeitlupe traf ihn hingegen mein Faustschlag mitten auf die Nase. Produkt eines Prozesses, der sehr schnell vor sich ging, sich aber viel langsamer anfühlte. Als würde plötzlich Lava statt Blut meine Adern füllen – trotzdem aber auch sehr angenehm. Die Zeit wurde ebenfalls zähflüssig, der Blick schärfer, besonders der Fokus auf die Nase des Jungen vor mir. Danach ballte sich die Faust – und einige Sekunden später tropfte das Blut des Klassenkameraden auf mein Pult.
Ich empfand keine Reue damals, das weiss ich noch. Obwohl die Lehrerin die Gewalt natürlich nicht gerade guthiess – aber immerhin uns beide ins Gebet nahm. Wenn ich Bedauern empfand, dann nur darüber, dass nicht noch mehr Blut auf mein Pult getropft war. Zudem Freude über die einmalige Farbe, die frisches, sauerstoffreiches Blut nun einmal wirklich hat.
Da war es also, das EXTREM. Der Junge, der sich vorher so vieles hatte gefallen lassen, war urplötzlich zum «Schläger» avanciert. Obwohl später wieder ein friedliches Naturell, wurde ich von da an völlig von dem besagten Mobber in Ruhe gelassen. Er hatte ja auch vorher schon mehr Freude an der Farbe «Gold» als an der Farbe «Rot» gehabt.
Dopamin und das Gehirn – etwas mehr als «nice to have»
Der Film «Awakenings» (1990) mit Robert de Niro und Robin Williams (basiert auf wahren Begebenheiten) zeigt wohl am eindrücklichsten, was der kleine Neurotransmitter «Dopamin» im menschlichen Gehirn ermöglichen kann. Oder eben auch verhindern, wenn er in zu geringem Ausmass zirkuliert. Awakenings zeigt die Arbeit eines Arztes, der Patienten behandelt, die an der «Europäischen Schlafkrankheit» leiden: Eine Gehirnentzündung, die Patienten in katatonische Zombies verwandelt, welche genügsam vor sich hin vegetieren. Der Filmarzt Malcolm Sayer (R. Williams, in der Realität Oliver Sacks) behandelt diese Menschen daraufhin mit Levodopa (L-Dopa), einem Medikament, das auch bei Parkinson verwendet wird.
Sein erster Proband ist Leonard Lowe, den er mit einem Ouija-Brett vor der Therapie dazu bringen will, seinen Namen zu buchstabieren. Lowe buchstabiert stattdessen den Titel des meisterhaften Gedichts «Der Panther» von Rainer Maria Rilke. Seine Reaktion auf das Medikament Levodopa bleibt zuerst aus. Nach einer enorm hohen Dosis des Dopamin-steigernden Mittels verwandelt er sich hingegen kurzum in einen «völlig normal» interagierenden Menschen, der mit seiner Mutter spricht, seine Umwelt reflektiert, sexuelles Interesse zeigt – und sich schliesslich sogar in eine Besucherin verliebt.
Was heftig Wirkung zeigt, zeitigt leider mittelfristig auch heftige Nebenwirkungen. Der Versuch läuft aus dem Ruder, weil Lowe schliesslich paranoide Schübe erleidet, aggressiv und übergriffig wird – und zudem aus der Klinik ausbrechen will. Kaum ist das Medikament abgesetzt, verfällt Löwe hingegen wieder in seinen alten Zustand – ein «menschliches Gemüse».
Und was hat das jetzt bitte mit ADHS zu tun?
Auch bei Menschen mit ADHS liegt ein «gestörter» – vielleicht aber auch nur anderer – Dopaminstoffwechsel vor. Der Neurotransmitter Dopamin wird im Gehirn zu schnell resorbiert, kursiert also zu wenig lange als Botenstoff in den Synapsen (Kontaktstruktur zwischen den Gehirnzellen). Eine erhöhte Menge des «Dopamin-Transporters» DAT sowie eine genetische Veränderung im «Dopamin-Transporter-Gen» wurden nachgewiesen.
Zudem wird in den vorderen Hirnabschnitten weniger Blutzucker verbraucht – so wird das Gehirn weniger stark durchblutet. Und die rechte, vordere Hirnregion ist weniger aktiv. Diese Tatsachen beeinflussen das Arbeitsgedächtnis ebenso wie die sogenannten «Exekutivfunktionen» des Gehirns – die oft auch als «innerer Dirigent» oder «Hauswart» bezeichnet werden. Die Amygdala, ein Hirnteil des limbischen Systems, ist derweil kleiner als bei neurotypischen Menschen. Sie ist zuständig für Emotionsregulation.
Aber sind wir nicht alle impulsiv, unaufmerksam und nervös?
Die gute alte Preisfrage. Bei «Wer wird Millionär?» wäre sie wohl etwa 100 Euro wert. Ja, wir haben auch alle einen Kochherd zuhause. Wenn Sie dort ein feines Minute-Plätzchen erhitzen möchten, drehen Sie ihn am besten kurz auf die volle Stufe hoch. Wenn Sie Reis schonend erwärmen möchten, tun sie das besser nicht – sonst wird es bald gewaltig stinken.
Der Zusammenhang zu ADHS: Unsere «Regler» betreffend Unaufmerksamkeit, Impulsivität und Nervosität/Hyperaktivität sind meistens oder sehr oft irgendwo bei Stufe 7-10 verklemmt. Und damit müssen wir dann halt «kochen». Neurotypische Menschen verfügen über eine feinere Armatur. Die drei Hauptsymptome von ADHS kennen sie zwar sporadisch auch – doch das ist dann eben die Ausnahme, nicht die Regel. Zudem können sie sich auf ihr Kurzzeitgedächtnis verlassen – und haben auch nicht das Zeitgefühl eines 5- bis 7-Jährigen. Diese zwei Dinge haben ebenfalls eng mit dem Neurotransmitter Dopamin zu tun.
«Sich Mühe geben», Schattenarbeit und Menschenliebe
Menschen mit ADHS hören oft den Satz, man «könne sich ja etwas mehr Mühe geben». Falls Sie da draussen ADHSlern begegnen, die ihre Ausbildung abgeschlossen haben, ihre Familie ernähren und/oder anständig zu ihren Kindern schauen, können Sie auf etwas Gift nehmen: Die geben sich alle schon verdammt viel Mühe. Jeden einzelnen Tag.
Falls Sie anderen ADHSlern begegnen – und auch davon gibt es genug – sollten Sie ebenso wenig den Umkehrschluss ziehen. Vielleicht liegt nämlich ein schweres ADHS vor, das Schicksal hat zu oft brutal zugeschlagen und/oder es ist auch kein liebendes, verständnisvolles Umfeld da, das diese Menschen bei ihrem Wachstum begleitet und ihnen auf ihrem Weg gute, inspirierende Gesellschaft leistet.
Wenn Sie Glück haben, treffen Sie sogar einen alten, langhaarigen und unrasierten Freak (mein Vater), der Ihnen dann ausführlich erzählt, dass er einst in einem Kernkraftwerk die Notkühlanlagen geprüft und gewartet hat – so dass Ihnen als Einwohner eines KKW-Kantons nach einem Reaktorunfall nicht der Arsch wegbrennt und sich Ihr Innenleben verflüssigt (Hüllenbruch > mögliche nukleare Kernschmelze > aus die Maus).
Das konnten Sie anhand des DENNER-Einkaufssacks, des alten Norweger-Pullis und der etwas weitschweifigen Art des Redens natürlich nicht erkennen. Denn ADHS kommt überall vor (ca. 5% der Bevölkerung). Auch Bill Gates, Johnny Depp und Emma Watson haben diese Diagnose.
In Gefängnissen beträgt die ADHS-Rate 20%, also jede(r) Fünfte. Das dürfte mit erhöhter Impulsivität bei ADHS zu tun haben, ebenso wie mit der Tatsache, dass Menschen prinzipiell nach menschlicher Integration suchen. Und wenn diese ausbleibt, «tut man halt, was man kann». In den hinteren, alten, Hirnteilen kursiert bei ADHS zu VIEL Dopamin, was zu erhöhter Vigilanz und Gewaltbereitschaft führen kann.
Das «Steinzeitgehirn» kennt nämlich hauptsächlich 3 Reaktionen auf Bedrohung. Kampf, Flucht oder Stillhalten (Freeze/Fawn). Die sind auch bei Einbrüchen, Überfällen etc. ganz nützlich.
SIE SOLLTEN SICH HALT ETWAS MEHR MÜHE GEBEN :-)
Sicher: ADHS zu akzeptieren, immer mal wieder auch die daraus resultierenden Schwächen, ist ab und zu sehr schwer oder nervig. Das ganze Leben ist ab und zu schwer oder nervig. Doch mit jedem Zeigefinger, den Sie wegen vergessenen Dingen, unaufmerksamem Zuhören, impulsiven Ausbrüchen oder nervösem Rumgezappel auf Ihre ADHS-Mitmenschen richten, zeigen auch drei Finger auf Sie selbst zurück.
OKann es vielleicht sein, dass Sie mit Ihren EIGENEN Schwächen auf dem Gebiet konfrontiert werden, wenn Sie sich SO FEST über Unaufmerksamkeit, Schusseligkeit, Redeschwall oder überbordende Emotionen ärgern? Ihre Reaktion ist nämlich nichts anderes als eine Darstellung, wie Sie selbst mit Schwächen, Unsicherheiten, Wut und Ängsten in Ihrem Leben umgehen. Mit dem Unberechenbaren. Mit Ihrem eigenen SCHATTEN. Und bei Schatten ist es so, dass sie stärker werden, je weniger wir uns ihnen widmen…
Menschenliebe und «Schattenarbeit», darauf kommt es also letztlich an. Letzteres ist übrigens kein Eso-Gefasel, sondern ein Teil des Lebenswerks von Carl-Gustav Jung, dem grossen Schweizer Psychologen.
Und am Ende, da sitzen wir halt alle im selben Boot – ADHS-Betroffene wie Neurotypische. Wir müssen irgendwie miteinander. Wir dürfen uns aber täglich entscheiden, ob wir lieber Wasser aus dem Kahn schöpfen – oder kleine Löcher in den Boden bohren. Beides kann Spass machen. Die Resultate fallen einfach unterschiedlich aus.
PS: Ja, die furchtbaren Bilder, was soll denn das…?! Diese Kreaturen, bekannt aus sehr populären Horrorfilmen, erholen sich gerade von ihren Leidenschaften. Sie können nicht viel mit Psychokram anfangen (lieber arbeiten!), haben wenig Geduld und sind auch schon prima im eigenen Schatten. Kennen Sie Ihren auch schon?