Zu laut und zu viel: Wenn Geräusche zur Qual werden - ADHS Store

Zu laut und zu viel: Wenn Geräusche zur Qual werden

Ein Handy klingelt. Jemand kaut laut einen Apfel. Draussen fahren Lastwagen vorbei. Was für viele Menschen ganz normale Geräusche sind, ist für andere kaum zu ertragen. Besonders Menschen mit ADHS, Autismus oder Asperger-Syndrom nehmen Geräusche oft viel stärker wahr. Das kann sie im Alltag belasten und ablenken. Doch es gibt auch raffinierte Lösungen für das Problem.

ADHS: Geräusche lenken von der Aufgabe auf

Menschen mit ADHS können sich schwer auf eine Sache konzentrieren – wenn es um sie herum eher laut oder unruhig ist. Sie hören auch jedes noch so kleine Geräusch. Ein Kühlschrank, der summt, oder das Ticken einer Uhr kann sie schon stören. Als unangenem empfundene Beschallung macht dann schnell müde und unruhig. Handkehrum kann eine frei ausgewähle "Wohlfühl-Geräuschkulisse" sogar konzentrationsförderlich sein. Dazu zählen etwa Naturgeräusche, Musik – oder, so widersprüchlich das klingen mag, sogar ein Lieblingscafé mit der immer etwa gleichen Kulisse von sich unterhaltenden Gästen.

Presslufthammer

Viele Neurodiverse haben eine sogenannte Misophonie. Das bedeutet: Bestimmte Geräusche – wie Kauen oder Atmen – machen sie richtig wütend oder nervös. Das kann so schlimm werden, dass sie sich von anderen Menschen zurückziehen oder sich an bestimmten Arbeitsplätzen nicht mehr konzentrieren können.

Misophonie-Tabelle

Autismus: Wenn Geräusche richtig weh tun

Bei Menschen mit Autismus ist es oft noch extremer. Sie hören nicht nur alles, sondern viele Geräusche fühlen sich richtig schmerzhaft an. Wenn zum Beispiel ein Auto vorbeifährt, kann das für sie klingen wie ein startendes Flugzeug direkt im Quartier.

Wenn zu viele Geräusche auf einmal präsent sind, kann das zu einem sogenannten Meltdown oder Shutdown führen. Ein Meltdown ist ein starker Gefühlsausbruch – die Person schreit, weint oder wirkt sehr innerlich wütend. Ein Shutdown ist das Gegenteil: Die Person zieht sich zurück, redet nicht mehr und wirkt wie „abgeschaltet“.

Autist leidet

Asperger: Probleme mit bestimmten Geräuschen

Menschen mit Asperger-Autismus haben oft Schwierigkeiten mit ganz bestimmten Geräuschen & Tönen. Es geht dabei nicht um die Lautstärke, sondern um individuelle Reiz-Frequenzen – wie das Summen einer Fliege oder hohe, schrille Stimmen. Solche Stimuli können sie fast verrückt machen. Sie vermögen sich dann kaum noch auf etwas anderes zu konzentrieren.

Um sich zu schützen, vermeiden viele solche Situationen oder tragen Kopfhörer oder Ohrstöpsel. Sie planen ihren Tag oft genau und brauchen Rückzugsorte, wo es ruhig ist.

Obgenannte "Überempfindlichkeit" mag heute ein Schwäche sein. Gemäss der Hunter&Farmer-Theorie dürfte sie früher überlebenswichtig gewesen sein. Nicht nur für diese "Jäger-Kaste", sondern vor allem für den Rest des Stammes - der sein Überleben in erster Linie den Jägern verdankte.

Was hilft? – ANC-Kopfhörer und angenehme Geräusche

Eine gute Hilfe für Neurodiverse sind spezielle Kopfhörer mit „Active Noise Cancelling“ (ANC). Diese Kopfhörer hören die Umgebungsgeräusche mit kleinen Mikrofonen ab – und generieren dann (fast zeitgleich) frequenzversetzten "Gegenlärm", der die Störgeräusche deutlich leiser macht oder (gefühlt) ganz verschwinden lässt. So wird es ruhiger – auch in lauten Umgebungen.

Viele Menschen nutzen diese Kopfhörer auch, um für sie angenehme Geräusche/Töne zu hören. Zum Beispiel Naturklänge (Meer, Regen, Wald etc.), Lieblings-Musik oder sogar sogenannten „White Noise“ – ein gleichmässiges Rauschen. Das hilft ihnen, sich besser zu konzentrieren und innerlich zu entspannen.

Weitere Hilfe: Therapie und mehr Rücksicht

Neben Technik können auch Therapien helfen. In der Ergotherapie oder Verhaltenstherapie lernen Menschen, besser mit den vielen Reizen umzugehen. Sie üben, wie man sich im Alltag davor schützt oder sich nach zu viel Lärm wieder beruhigt.

Auch die Gesellschaft kann helfen. In einigen Supermärkten gibt es zum Beispiel eine „stille Stunde“: Dann ist das Licht gedimmt, keine Musik läuft und keine Durchsagen erfolgen. So können Menschen, die sehr geräuschempfindlich sind (etwa Autisten) in Ruhe einkaufen.

Fazit: Technik und mehr Verständnis nützen

Geräuschempfindlichkeit ist nicht einfach nur „zickig sein“ oder „empfindlich reagieren“. Für viele Neurodiverse ist sie eine echte Herausforderung, die sie jeden Tag belastet. Menschen mit ADHS oder Autismus brauchen deshalb auch mehr Verständnis – in der Schule, im Bus, im Büro oder zu Hause.

In Grossraumbüros kann das bedeuten, dem/der Mitarbeitenden einen kleinen Sitzungsraum zu erlauben. In einigen Unternehmen existieren solche "Quiet Spaces" für eine oder zwei Personen sowieso. Oder es wird grosszügig mit dem Thema "Arbeit im Café" oder Home Office umgegangen. Die Produktivität leidet darunter nicht – ganz im Gegenteil. Sind etwa ADHSler einmal im Zustand des Hyperfokus, können sie stundenlang eine enorme Produktivität an den Tag legen.

Technische Hilfen wie ANC-Kopfhörer, ruhige Orte und mehr Rücksicht im Alltag können also schon viel bewirken.

ADHS Bub mit ANC Kopfhörern

Wenn wir alle besser zuhören und ernst nehmen, wie sich andere fühlen, wird das Leben für alle leichter. Zudem ergänzen sich der neurotypische und neurodiverse Umgang mit Geräuschen im Idealfall sogar. Ein "hier könnte ich nicht arbeiten" von Menschen ohne ADHS wird beim ADHSler dann zu "doch, in diesem Café habe ich ein ganzes Projekt aufgezogen".

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