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Drei Schalen und ein Kern: Die Schichten unserer Persönlichkeit

Jeder Mensch ein Zwiebel-Wesen? Das "Kern-Schalen-Modell" präsentiert sich als eine faszinierend einfache und intuitive Methode, um Emotionen besser zu begreifen und mit ihnen umzugehen. Ursprünglich von C. Thomann in seinem Werk "Klärungshilfe: Konflikte im Beruf" (rororo, 2002) eingeführt, scheint das Modell seine Wurzeln in den Arbeiten von Wilhelm Reich zu haben (österreichisch-ungarischer Arzt und Psychoanalytiker).

 

Kern-Schalen-Modell

Die zentrale These des Modells besagt, dass sich im Laufe der menschlichen Entwicklung verschiedene emotionale Schichten um den Kern der Psyche legen. Diese Schichten, geformt durch den jeweiligen psychischen Entwicklungsstand und Reifegrad einer Person, beeinflussen deren emotionale Reaktionen und Verhaltensweisen. Um das in jedem Menschen innewohnende Potenzial an Kreativität – sowie die Fähigkeit zu lieben und Glück zu empfinden – komplett zu entfalten, müssen diese Schichten erkannt und durchdrungen werden. Das Modell kann man sich effektiv wie die Schichten einer Zwiebel vorstellen. 

Brennender Kern 1

Der Ursprung und Kern: Lebensfreude und Liebe 

Babys betreten die Welt als spontane, lebendige Wesen, voller Lebensbejahung und ohne jeglichen Schutz. Schon von Beginn an sind grundlegende Bedürfnisse vorhanden, die befriedigt werden müssen, wie Wasser, Nahrung, Sauerstoff, Wärme, Schlaf, Fürsorge und Liebe. Im Laufe des Lebens erfahren wir aber alle auch Momente, in denen diese Bedürfnisse nicht oder nicht rechtzeitig erfüllt werden, was zu Frustrationen und zu physischen wie emotionalen Schmerzen führen kann. Aus diesen unverarbeiteten Verletzungen entsteht allmählich eine emotionale Schicht, die den ursprünglichen, lebendigen Kern des Menschen umhüllt, der nichts weiter als das Leben selbst begehrt. 

Menschen, die sich den Zugang zu diesem inneren Kern bewahrt haben, werden oft als kreativ, wertschätzend und liebevoll wahrgenommen. Ihre Anwesenheit schafft eine einladende, warmherzige Atmosphäre und ihr Kontakt wirkt inspirierend. Diese Charakterisierungen sollen keine simplen Stereotypen vermitteln, sondern vielmehr den emotionalen Fokus verdeutlichen, der die Grundeinstellung und das Verhalten von Menschen bestimmt. Jeder Mensch entwickelt einen solchen emotionalen Fokus, der sein emotionales Erleben prägt und aus dem heraus er mit der Welt interagiert. 

Allerdings: Wir alle sind fähig, ein breites Spektrum an Gefühlen zu erleben, unabhängig davon, wo unser emotionale Schwerpunkt gerade liegt. 

Kern 2

Die erste Schicht: Schmerz und Verletzung 

Diese Ebene repräsentiert die ersten emotionalen Reaktionen auf Enttäuschungen und Verletzungen – Gefühle der Hilflosigkeit, der Einsamkeit, des Verlangens nach Aufmerksamkeit, der Verzweiflung und des Schmerzes. Um wieder eine Verbindung zum eigenen lebendigen Kern herzustellen, ist es unerlässlich, sich den erlebten Schmerzen und Verletzungen zu stellen, die einst erfahren, aber abgewehrt und verdrängt wurden. 

Personen, deren emotionale Mitte in dieser Schicht liegt, neigen oft dazu, sich als Opfer ihrer Umstände zu sehen, die Schuld für ihr Leiden und Schicksal anderen zuzuschieben und eigene Verantwortung zu meiden. Sie klagen häufig und verharren in einer Art kindlichen Haltung. Dies wird oft im zwischenmenschlichen Kontakt deutlich, wenn man sich selbst als eine Art emotionale Stütze oder Klagemauer fühlt. Ratschläge zur Verbesserung der Situation werden dann ignoriert oder gar abgelehnt. Es ist zwar wertvoll, Menschen in emotional schwierigen Lagen beizustehen und zuzuhören, aber wenn man sich ausgenutzt fühlt, ohne dass die andere Person Verantwortung für die Änderung ihrer Situation übernehmen möchte, könnte dies ein Zeichen dafür sein, dass diese Person in dieser Schicht verhaftet ist

Die integrierte Schicht des Schmerzes bedeutet, dass die Person nicht mehr in der Abwehr des Schmerzes verhaftet ist oder Schuldige sucht, sondern den Schmerz akzeptiert und empfindet. Mit der Integration des eigenen Schmerzes wächst auch das Mitgefühl für andere. 

Kern 3

Die zweite Schicht: Aggression als Schutzmechanismus 

Um schmerzhafte Empfindungen zu vermeiden, bildet der Mensch eine Schutzschicht aus reaktiven Emotionen, die ihn vor der Konfrontation mit ursprünglichen Verletzungen und den damit einhergehenden Schmerzen schützen sollen. Aggression ist eine natürliche Reaktion auf Bedrohung. Werden grundlegende Bedürfnisse nicht ausreichend erfüllt, empfinden wir dies als Bedrohung, die sich in Form von Zurückweisung, Verletzung, Nicht-Geliebtsein, Einsamkeit, unerfülltem Bedürfnis nach Nahrung oder Zuneigung und den damit verbundenen schmerzhaften Gefühlen manifestiert. 

Die Aggressionsebene ist dazu da, diese herausfordernden Gefühle wie Schmerz und Hilflosigkeit abzuwehren. Oft liegt hinter Aggression unerkannter Schmerz – eine abgewehrte Emotion. 

Personen, die in der Aggressionsschicht verharren, werden von anderen als laut und störend wahrgenommen. Ihr Verhalten ist meist destruktiv, da sie ihren Bedarf an Aufmerksamkeit und Zuneigung durch zerstörerisches, streitendes, ärgerliches oder trotziges Verhalten zu stillen versuchen. Die Wut über erlebte Zurückweisung richtet sich gegen diejenigen, von denen ursprünglich etwas erhofft wurde, wie zum Beispiel eine als nicht ausreichend fürsorglich wahrgenommene Mutter – und kann sich später auf andere Beziehungen ausweiten. 

Jedoch ist nicht jede Aggression eine neurotische Abwehr von Schmerz. Wenn ein Mensch im Zuge seiner persönlichen Entwicklung auch schmerzhafte Gefühle akzeptiert und nicht mehr abwehrt, wird die Aggression zu einer konstruktiven Kraft. Sie wird zu einer Fähigkeit, klar und bestimmt zu konfrontieren und zu kämpfen. Aggression ist dann eine gestaltende Kraft, die für den Schutz und das Eintreten für Neues, an das man glaubt, eingesetzt wird – selbst, wenn dies nicht immer auf Zustimmung trifft. 

Kurz gesagt, wenn wir innerlich mit unseren Dämonen im Reinen sind, müssen wir unsere Energie nicht mehr dafür verwenden, sie zu bekämpfen und zu unterdrücken. Stattdessen stehen sie uns wie domestizierte Verbündete zur Seite, verleihen uns Energie zu unserem Schutz und zur Schaffung neuer Dinge, die uns wichtig sind. 

Kern basteln

Die dritte Schicht: Anpassung bis Selbstverleugnung 

Während des Heranwachsens wird das Kind oft für sein trotziges und aggressives Verhalten bestraft und sucht doch weiterhin nach Liebe und Akzeptanz. In dieser Phase beginnt es, sich eine Schicht der Anpassung anzulegen, quasi als Maske über seine Aggressionsgefühle. Mit dieser Anpassung verleugnet das Kind seine wahren Gefühle, um Liebe und Anerkennung zu erhalten, die es als authentisches Selbst nicht bekam. Doch das hat seinen Preis: Sie kann zu Depressionen, Gefühlen der Leblosigkeit und Langeweile sowie zu einem Sinnlosigkeitsempfinden führen. 

Personen, die emotional in dieser Schicht verharren, wirken meist unauffällig und farblos und laufen Gefahr, zu Mitläufern zu werden. Ihr Hauptziel ist es, durch Anpassung die Zuneigung anderer (Eltern, Freunde, Partner, Vorgesetzte) zu gewinnen. In ihrem Streben nach Anerkennung wagen sie es selten, ihre eigene Meinung zu äussern oder übernehmen die allgemein akzeptierte Meinung als ihre eigene. 

Sie vernachlässigen zudem oft ihre innere Stimme und ihre eigenen Bedürfnisse, da sie sich selbst entfremdet haben. Eine fade, undurchdringliche Kruste hat sich über ihren wahrhaftigen Kern gelegt. 

Kern 2

Die Lebenskrise: Wie ein Schälen der Zwiebel 

Egal, wo wir in Bezug auf welche Themen gerade stehen – etwa in der Anpassung oder Aggression – Lebenskrisen führen dazu, dass die «Zwiebel der Persönlichkeit» schonungslos durchstossen wird, Nicht selten dringt man dann bis zum inneren Kern vor, eine Reise, die nicht gerade als angenehm empfunden wird. Menschen, welche in extremen Lebenssituationen früher auf die Liebe von nahen Personen (irgendwelcher Art) zählen konnten, können dann aber auch entdecken, dass sie mehr Kraft haben, als sie von sich ursprünglich gedacht hatten. Sie entdecken mitunter eine neue Form von Selbstliebe. Das Resultat: Sie verraten nicht mehr ihre eigene Sache, wenn sie vor die Wahl gestellt werden: Zuneigung und Anerkennung – oder Treue zu den eigenen Zielen, Werten und Visionen. 

Gerade Menschen mit ADHS, die meist mit vielen Selbstzweifeln durchs Leben gehen, können daraus gewaltige Kraft schöpfen. Denn Krisen kann man auch niemals übersehen, verdrängen oder «morgen erledigen». Sie erfassen einen vielmehr wie ein gewaltiger Sturm und reissen einen mit. Doch einmal überstanden, ist gewiss: «Das habe ich selbst geschafft. Das kam aus meiner Mitte». 

Selbsthilfebücher und Coaches aller Art predigen im Grunde diese «Kraft aus dem eigenen Kern». Doch eine Garantie, sie zu finden und nutzen zu können, gibt es nie. Tröstlich immerhin, dass wird alle im selben Boot sitzen. Das heisst, auch externe Hilfe in Krisen zu suchen und anzunehmen, ist immer eine gute Idee. 

Eine Wahrheit allerdings verändert sich niemals: Am Ende müssen wir immer alleine mit uns ins Reine kommen und neue Hoffnung schöpfen. Keine Therapeuten, Partner oder Angehörige können jemals diese Verantwortung tragen. 

Denn: Wir alle haben letztlich unser eigenes SELBST voller Erfahrungen, Prägungen und Erinnerungen, um das wir uns täglich sorgen. Und manchmal können/sollten wir erst ganz leer werden, um später wieder Platz für Neues zu haben. 

Glas im Winter

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