Treppe aus der Hölle raus

Resilienz: Wenn die Seele kämpft und gewinnt

Sturm! Es gibt immer wieder Phasen, da ist unser Leben eine raue See. Stichwort: Schicksalsschläge. Manche Menschen erweisen sich dabei jedoch als seetüchtiger als andere. Die Wissenschaft spricht von «hoher Resilienz». Kann das jeder lernen?

Erstens: Das gibt es nicht nur in der Natur. In der Technik versteht man unter Resilienz die Eigenschaft von Systemen, bei Störungen nicht komplett auszufallen, sondern gewisse Funktionen beizubehalten. Beim Menschen ist das Konzept der Resilienz aber ähnlich. Es bezieht sich auf die Kompetenz, schwierige Lebenslagen, Stress und Krisen flexibel zu bewältigen und daraus sogar gestärkt hervorzugehen. Dies geschieht so, dass die seelische Gesundheit unversehrt bleibt bzw. rasch wiederhergestellt wird.

Kurz: Resilienz ist die innere Stärke des Menschen.

Das Wort Resilienz hat seinen Ursprung im lateinischen resilire, was so viel wie "zurückfedern", "abprallen" bedeutet. Ein interessanter Aspekt: Resilienz ist kein Synonym für Robustheit. Betrachten wir etwa einen ausgewachsenen, dicken Baum. Er mag unzerstörbar erscheinen – doch er ist kaum biegsam – und bietet dem Sturm eine grosse Angriffsfläche. Oftmals werden solche Bäume entwurzelt oder zerbrechen. Denn sie können nicht – wie beispielsweise Palmen – bei einem Hurrikan flexibel hin- und herschwingen.

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Wie wird man resilient?

Die Seefestigkeit eines Menschen zeigt sich besonders in stürmischen Zeiten. Ob jemand resilient ist, wird also erst in Krisen deutlich. Die erfreuliche Botschaft: Resilienz kann man in jedem Lebensabschnitt erlernen. Die ersten Grundlagen hierfür können bereits in der Kindheit gelegt werden. Das Fundament besteht hauptsächlich aus verlässlichen Bezugspersonen und der Erkenntnis, dass das eigene Handeln das Leben beeinflussen kann. Dass man also Kontrollmöglichkeiten hat und dem Leben nicht ohnmächtig ausgeliefert ist. Förderlich für die Resilienz ist auch, ein realistisches Selbstbild und einen guten Umgang mit eigenen Emotionen zu vermitteln. Wenn z.B. auch unangenehme Gefühle zugelassen und verarbeitet werden können. Diese Schutzfaktoren unterstützen Kinder dabei, zu resilienten Erwachsenen heranzuwachsen.

Beispiel: Harry Potter - ein resilientes Vorbild

Der Zauberlehrling Harry Potter ist wohl ein Musterbeispiel für Resilienz. Besonders deutlich wird dies, wenn man seine Liste an Krisen und Schicksalsschlägen betrachtet. Als Baby verwaist (Eltern ermordet), von Verwandten, Mitschülern und Lehrern tyrannisiert, muss er sich jahrelang gefährlichen Herausforderungen stellen. Dennoch überwindet Harry all dies, wird durch jede Krise stärker und findet das Glück im Leben – dank wesentlicher Schutzfaktoren. Er findet auch rasch Freunde, die mit ihm alle Herausforderungen bewältigen, hat in Schulleiter Dumbledore einen Leitstern – und wird selbst nach dem Tod der Mutter durch deren Liebe geschützt. Zudem übernimmt er Verantwortung, bleibt lösungsorientiert und gestaltet aktiv seine Zukunft. All dies ist Resilienz.

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Wird Resilienz vererbt?

Die Forschung beschäftigt sich noch heute mit der Frage, ob Resilienz genetisch vererbt wird. Eine Annahme ist, dass Resilienz durch das Wachstum der Nervenzellen im Gehirn beeinflusst wird. Verläuft dieses Wachstum reibungslos, bleibt das Gehirn und damit auch das Denken beweglich. Eine solche geistige Beweglichkeit kann dazu beitragen, dass Menschen besser mit Krisen umgehen können. Verantwortlich für diesen Prozess sind Proteine, deren Bildung ebenfalls genetisch beeinflusst wird. Sicher ist jedoch: Alleinige Vererbung führt nicht zu gesteigerter Resilienz.

Ebenfalls gewiss ist: Menschen, deren Selbstwahrnehmung sich mit Krisen nicht weiterentwickelt, bisweilen fundamental verändert, haben wenig Chancen auf Resilienz. Denn sie werden  durch ihre uniformen Aktions- und Reaktionsmuster  immer wieder in dieselben Fallen tappen. Weil das für ihr Gehirn kaum aushaltbar ist, kommt aber ein spannender Mechanismus zum Tragen: Die Projektion. Gefragt, was ihre Krise denn nun wieder ausgelöst hat, wird die Antwort dieser Personen allermeistens sein "der andere" oder "die anderen". Ein guter Weg, um nicht echte psychische Arbeit leisten zu müssen. Aber auch ein sicherer Weg, in vielen Bereichen des Lebens stehenzubleiben (Stagnation).

Der Lackmus-Test für solche Menschen? Geben Sie Ihnen den Artikel zum Lesen, der "sei noch interessant" (aber ohne diesen Abschnitt). Wenn nachher die empörte Antwort kommt "Wieso? Meinst Du mit nicht resilient etwa mich?", können Sie antworten: "Nein, der Schuh hier wurde nicht extra für dich gemacht, Cinder-fu**ing-ella, aber wenn er Dir passt, dann trage ihn". Will heissen: Wenn eine allgemeine Aussage bei Menschen immer gleich Betroffenheit auslöst, bzw. sie davon ausgehen, dass man ihnen Schwäche/negative Züge/Versäumnisse vorwerfen will, liegt eine Störung des Selbstwertes vor. So kann etwa die Aussage "es hat keine Bananen mehr" einerseits sachlich verstanden werden ("ja, habe ich auch gesehen"), man kann daraus aber auch prima einen Vorwurf ableiten ("willst Du sagen, ich habe vergessen, welche zu kaufen?"). Natürlich kommt es dabei enorm auf den Ton an.

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Resilienzfaktoren – und wie man sie stärkt

Jeder kann seine innere Stärke ausbauen. Man kann sich das vorstellen wie einen Resilienz-Muskel, den man regelmässig trainieren muss, damit er kräftig bleibt oder wächst (was denn auch die Krise wieder wertvoll erscheinen lässt – nämlich als "Sparringpartner"). Resilienzmodelle beschäftigen sich mit der Frage, welche Kompetenzen und Stärken zur inneren Widerstandskraft gehören. Darauf basierend lässt sich ein Trainingsplan zur Stärkung der Resilienz erstellen.

Die sieben Säulen der Resilienz

Die Resilienzexpertin Dr. Jutta Heller identifiziert in ihrem Modell zur inneren Stärke sieben Säulen für mehr Resilienz:

1. Akzeptanz = Krisen als Teil des Lebens begreifen und anerkennen

Tipp: Üben Sie Achtsamkeit. Das bedeutet, Krisen und die damit verbundenen Emotionen und Gedanken zuerst einmal zu akzeptieren, wie sie sind. Wer den Sturm hinnimmt, anstatt dagegen anzukämpfen, spart Energie für den Durchgang. Er erlaubt es, "gebogen zu werden", wie die Palme.

ADHS-Betroffene geniessen den Vorteil, dass sie sehr vernetzt und auch divergent denken. Daraus kann Trost wie Hoffnung erwachsen. Vielleicht sogar eine komplett neue Perspektive, die das Geschehene als wichtiges, wenn auch schmerzliches Puzzle-Teil der eigenen Biographie begreift.

2. Optimismus = positives Denken und Hoffnung

Tipp: Optimismus sollte kein "Muss" sein, schon gar nicht von anderen Menschen aufgezwungen. Er lässt sich oft aus den eigenen Werten schöpfen (Liebe, Ehrlichkeit etc.), die man z.B. in die Welt tragen möchte, "koste, was es wolle". Fragen Sie sich, was Ihnen wirklich wichtig ist, wofür Sie sterben – aber vor allem auch leben – würden. Fragen Sie sich auch, bis zu den ganz kleinen Dingen, was Ihnen täglich Freude macht. Und gönnen Sie sich diese Dinge, wann immer möglich, gerade in Krisenzeiten.

3. Selbstwirksamkeit = Überzeugung, Krisen aus eigener Kraft bewältigen und lösen zu können

Tipp: Machen Sie sich angenehme Erfahrungen und Ihre eigenen Stärken bewusst. Schreiben Sie dafür jeden Abend zwei bis drei Dinge auf, die an dem Tag gut waren oder die Sie erreicht haben

In einem Krisen-Logbuch können Sie so immer wieder nachlesen, welche Stürme Sie bereits gemeistert haben. Das gibt Kraft, fördert das positive Denken und Ihre Selbstwirksamkeit. Mit diesem Tipp stärken Sie also direkt zwei Säulen zu mehr Resilienz.

4. Verantwortung = Zum eigenen Tun stehen und sein Leben wieder selbst gestalten

Tipp: Mit dem Lesen dieser Ratschläge übernehmen Sie schon Verantwortung für Ihr Leben. Das bedeutet auch, gute Bedingungen für Ihre seelische und körperliche Gesundheit zu schaffen. Selbstkritik ist immer gut, sollte aber nicht in Selbstzerfleischung ausarten. Was Sie falsch gemacht haben, macht Sie noch nicht zu einem schlechteren Menschen. Wenn Sie jedoch nichts daraus lernen möchten, wird es diesbezüglich schon etwas wärmer.

Gerade mit einer ADHS-Diagnose mag während Krisen der Gedanke nahe liegen "auch das noch, ich hatte es doch sonst schon immer schwerer als Neurotypische". Das stimmt zwar, macht Sie aber nicht zum Opfer. Genau WEIL sie öfter psychisch gekämpft haben, sind Sie auch besser trainiert für den Ernstfall.

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5. Bindung = Soziale Kontakte knüpfen und Unterstützung annehmen

Tipp: Verantwortung für das eigene Leben zu übernehmen heisst nicht, alles alleine zu tun. Machen Sie es sich einfacher und bitten Sie Freunde um Hilfe. Wie eine eingespielte Crew, mit der Sie zusammen den Sturm überstehen. Oft kann es auch hilfreich sein, sich in Krisenzeiten anderen anzuvertrauen und zu spüren, dass man nicht alleine ist.

6. Lösungsorientierung = Fokus auf Chancen und Lösungen eines Problems

Tipp: Werde Sie sich Ihres Problems bewusst und konzentrieren Sie sich dann auf das, was Sie verändern können. Gehen Sie Ihre Krisen aktiv und so konkret wie möglich an. Erstellen Sie z.B. einen Plan, welche Lösungswege es gibt und entscheiden Sie sich zunächst für den einfachsten und erfolgversprechendsten. Versuchen Sie auch verschiedene Wege. Mit der Frage, woher der Sturm kam, können Sie sich dann immer noch beschäftigen (ja, der Punkt ist bei Menschen mit ADHS schwierig, weil wir klassische "Overthinker" sind). Sport treibt das aus!

Krisen wie etwa Liebeskummer können sich bei Menschen mit ADHS besonders brutal anfühlen, bzw. die Stresshormone ins Unerträgliche steigen lassen – und die Unaufmerksamkeit massiv verstärken. Besprechen Sie eine solche Situation offen mit Ihrer ärztlichen Fachperson, um eine therapeutische Lösung zu finden.

7. Zukunftsorientierung = Planung und Verwirklichung der eigenen Ziele

Tipp: Achten Sie darauf, dass Ihre Ziele genau und konkret, überprüfbar, realistisch und zeitlich definiert sind. Also spezifisch – messbar – realistisch – terminiert (SMaRT). Das erhöht die Wahrscheinlichkeit, diese Ziele auch zu erreichen.

Das Erlernen von Resilienz ist ein langfristiger Prozess. Wie im Sport ist es daher wichtig, dass Sie regelmässig genug zur Ruhe kommen. Ein nachhaltiger Umgang mit eigenen Ressourcen, Nein-Sagen und Grenzen-Ziehen tragen somit auch zum Aufbau der inneren Stärke bei.

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Sind resiliente Menschen immun gegen Stress?

Kein Mensch ist gegen Stress gefeit. Auch resiliente Personen können aufkommende Krisen als extrem schmerzhaft und belastend wahrnehmen. Die innere Stärke macht jedoch aus, dass man trotz dieser Belastungen handlungsfähig bleibt, wenn auch vielleicht eingeschränkt. Die See bleibt stürmisch und resiliente Menschen werden sogar seekrank (inkl. Erbrechen), aber sie behalten eben dennoch das Ruder in der Hand – oder zumindest das Schiff halbwegs im Blick (wo hat es Löcher?).

Resilienz bedeutet auch, darauf zu vertrauen, dass der Wind wieder drehen wird:Es ist schwierig. Jetzt. Aber es wird wieder besser. Übermorgen“.

Auryn
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