
Wenn die Welt zu laut wird: Tipps für mehr Ruhe bei ADHS und Autismus
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Für viele Kinder mit ADHS oder Autismus wird das alltägliche Geräusch-Chaos zur Herausforderung. Mit den richtigen Tricks und einem Verständnis für ihre Reizverarbeitung lässt sich der Alltag leichter gestalten.
Geräuschempfindlichkeit gehört zu den weniger bekannten Symptomen von ADHS und Autismus. Das liegt daran, dass sie oft hinter auffälligeren Verhaltensweisen wie Unruhe oder Konzentrationsproblemen zurücktritt und selten explizit diagnostiziert wird. Dabei ist sie für viele Betroffene allgegenwärtig. Wissenschaftlich erklärbar wird sie durch eine überaktive Reizverarbeitung im Gehirn, bzw. den alten Hirnteilen. Normale Alltagsgeräusche – ein summender Kühlschrank, spielende Kinder, sogar Regentropfen, eine Fliege – werden teils so intensiv wahrgenommen, dass sie belastend wirken.

Bei ADHS treffen die Geräusche auf eine ohnehin schon rasante Gedankenwelt. Jede Kleinigkeit lenkt ab, jedes plötzliche Geräusch wird zum Fokus. Bei Autismus, vor allem im Asperger-Spektrum, kommt eine tiefere Verarbeitung hinzu. Die Welt klingt nicht nur laut, sie fühlt sich für Betroffene regelrecht unkontrollierbar an.
Der Alltag mit Geräuschempfindlichkeit
Die Herausforderungen beginnen oft schon früh am Morgen. Das Durcheinander am Frühstückstisch oder plötzliche Geräusche im Haus wirken auf neurodiverse Menschen wie ein schrilles Alarmsignal.
In der Schule wird es nicht leichter. Kreide, die quietscht, das Summen einer Lüftung, lautes Gelächter – all das lenkt ab oder fühlt sich an, als würde es durch die Haut dringen.
Im Beruf sind es grosse Büros, klingelnde Telefone oder Baustellenlärm, die den Tag zur Qual machen. Aber auch zu Hause gibt es kaum Ruhe. Selbst harmlose Klänge, wie ein tropfender Wasserhahn, können übermächtig. wirken. Betroffene ziehen sich oft zurück, um nicht permanent gereizt oder erschöpft zu sein.

Praktische Strategien und Hilfsmittel
Die richtigen Hilfsmittel können Wunder wirken. Aktive Noise-Cancelling-Kopfhörer (ANC) dämpfen Lärm effektiv und schaffen kleine Inseln der Ruhe. Weisses Rauschen, zum Beispiel durch Apps, blendet unangenehme Geräusche aus und beruhigt das Gehirn. Oder natürlich individuell als angenehm empfundene Naturgeräusche, wie Meer, Bach, Wind etc. ANCs bekämpfen Lärm mit Gegenlärm, der ihn auslöscht oder jedenfalls sehr stark dämpt - ganz so, wie sich auch Wellen im Wasser oft gegenseitig abflachen.
Auch die Umgebung spielt eine Rolle. Teppiche dämpfen Schritte, Vorhänge schlucken Schall, und gut abgedichtete Fenster lassen den Verkehrslärm draußen.
Achtsamkeit hilft, wenn Hilfsmittel nicht ausreichen. Eine einfache Übung: Konzentriere dich für ein paar Atemzüge bewusst auf das Ein- und Ausatmen. Zähle dabei bis vier, halte kurz inne und atme dann langsam wieder aus. Das beruhigt und hilft, Stress zu reduzieren. Das Fokussieren auf ein beruhigendes Bild, sozialer Austausch mit Freunden - oder eine kurze Pause in einem ruhigen Raum - senken den Stresspegel.

Geräuschempfindlichkeit bei Kindern
Kinder mit ADHS oder Autismus brauchen vor allem Verständnis. Ein plötzlicher Wutanfall über laute Musik oder eine unbequeme Jacke ist keine Trotzreaktion. Eltern können ruhig bleiben und dem Kind signalisieren, dass seine Gefühle ernst genommen werden. Einfache Fragen wie "Ist es zu laut?" oder "Möchtest du eine Pause machen?" helfen, die Situation zu entspannen.
Rückzugsorte bieten Schutz. Ein stilles Zimmer mit Kuscheldecke und Lieblingsspielzeug gibt Kindern Sicherheit. In der Schule helfen kleine Anpassungen: Ohrstöpsel, ein Platz am Fenster oder das Recht, bei Bedarf eine Pause einzulegen.
Spielerische Tools wie Knautschbälle oder farbige Kopfhörer machen den Umgang mit Reizüberflutung einfacher. Wichtig ist, dass Kinder spüren, dass sie nicht "falsch sind" – sie nehmen die Welt nur intensiver wahr.

Die emotionale Seite der Geräuschempfindlichkeit
Reizüberflutung ist mehr als Stress. Sie greift tief in die Gefühlswelt ein. Manche Kinder oder Erwachsene reagieren mit plötzlicher Wut oder Traurigkeit. Andere ziehen sich zurück. Das liegt daran, dass der ständige Lärm wie ein Angriff auf die eigene Sicherheit wirkt.
Hier hilft Selbstakzeptanz. Betroffene müssen nicht "härter werden", um in einer lauten Welt zu bestehen. Stattdessen hilft es, sich selbst ernst zu nehmen und die persönlichen Grenzen zu respektieren. Auch das Umfeld sollte lernen, Rücksicht zu nehmen und nicht über vermeintlich „übertriebene“ Reaktionen zu urteilen.

Sonnenseiten der sensorischen Empfindlichkeit
Geräuschempfindlichkeit hat auch Vorteile. Der weltbekannte Pianist Glenn Gould, der viele Merkmale des Autismus zeigte, nutzte sein aussergewöhnliches Gehör, um unvergleichliche Interpretationen klassischer Musik zu schaffen. Auch Justin Timberlake, der mit ADHS lebt, beeindruckt durch seine musikalische Vielseitigkeit und seine Fähigkeit, Melodien und Rhythmen intuitiv zu erfassen.
Ihr aussergewöhnliche Gehör ermöglicht es neurodivergenten Musiker:innen, Toningenieur:innen oder Künstler:innen, auf einem hohen Niveau zu arbeiten. Sie hören/spüren nicht nur intensiver, sie können diese Intensität auch in ihren Gesang und ihre Kompositionen übertragen.
Wer jedes Detail hört, schätzt die Stille umso mehr. Das macht neurodiverse Menschen oft zu fein abgestimmten Sensoren für Harmonie – sowohl in der Natur als auch im zwischenmenschlichen Bereich.
