Denn sie legen ihre Kindheit ab wie einen alten Hut...
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Irgendwann nach der Midlife-Krise – aber immerhin vor dem Kauf eines dicken Motorrads oder Porsches – habe ich mich entschieden, Vater zu werden. Seither gehen mir Gedanken durch den Kopf, die ich vorher nicht kannte. Und eine Sache ist mir jetzt ganz klar geworden.
"Wissen Sie Sandro, das kann im Leben dann schädliche Auswirkungen für Sie haben, wenn Sie in dieser Rolle steckenbleiben. In der Rolle eines Clowns." Ein Satz meines Klassenlehrers im Gymnasium (er beharrte darauf, uns mit Vornamen zu siezen). So gesprochen vor geschlossener Klassentüre. Zwei Menschen, die zur falschen Zeit am richtigen Ort waren. Der Klassenlehrer zu spät zur Physikstunde, ich genauso. Seinem tadelnden Satz zur Clown-Rolle war die Bemerkung vorausgegangen, ich sei wieder einmal ausserplanmässig unterwegs. Worauf ich geantwortet haben muss "ja, genau wie Sie, Herr Barblan".
Physiklehrer Barblan nahm diese Erwiderung etwas zerknirscht zur Kenntnis. Tatsächlich liess sich nicht abstreiten, dass wir beide, als Teilchen im Raum-Zeit-Gefüge, zur selben Zeit am selben Ort waren – und auch etwa mit derselben Geschwindigkeit zur Türfalle griffen. Das provozierte eine Situation, die in jeder Hinsicht situationskomisch war. Hand in Hand, gemeinsam zu spät auf dem Weg ins Wissen, sozusagen. Und da musste ich natürlich lachen.
Die schwierige Rolle des Clowns...
"Sandro, ich beobachte das an Ihnen, und es macht mir Sorgen". Die Rolle des Clowns sei eine schwierige, die Ausgrenzung durch die Gesellschaft gewissermassen garantiert. Es gehöre mitunter zur mittleren Reife, von solchen Rollen Abschied zu nehmen. Ich solle doch bitte darauf achten, nicht in das Fahrwasser des ewigen Augustins zu geraten. Sagte es, sinngemäss – und klemmte energisch seinen rosaroten Velohelm unter den Arm.
Es war nicht das erste Mal, dass ich von Lehrpersonen oder Autoritäten in anderen Gebieten hören musste, dass ich an meiner Reife zu arbeiten hatte. Reife, so schien es, war durch gewisse Einsichten zu erlangen. Einsichten, die meistens eine grosse Schnittmenge mit dem Glaubenssystem der Person hatten, die in dem Moment gerade von Reife sprach.
Es ist mir sogar einmal passiert, dass ein 30-jähriger Freund, immer schon wohnhaft bei und abhängig von seiner Mutter, meine Reife in Relation zu seiner als tiefer bewertete. Das allerdings fand ich so absurd, dass meine Gedanken sofort ins Reich der Kängurus abschweiften. So lange diese Tiere keck – aber komplett hilflos – aus dem Beutel gucken, kann man bei ihnen einfach noch nicht von Reife sprechen, dachte ich mir. Etwas schien faul zu sein im Staate Dänemark.
Vater werden ist-nich-tschwer...
Reife war als Begriff schwer zu greifen, doch als Voraussetzung war sie eine durchaus prominente Grösse. Vater sein schien mir zum Beispiel eine Königsdisziplin, die viel Reife erforderte. Bis zu diesem Punkt, da war ich sicher, müsste man einen Master in Reife haben (mindestens magna cum laude), um den Nachwuchs nicht unnötig zu gefährden. Es konnte nicht günstig im Sinn der darwinschen Auslese sein, wenn unreife Männer mir nichts dir nichts kleine Menschen in Serie produzierten.
Vielleicht habe ich darum so lange gewartet mit dem Vater werden. Doch dann passierten Dinge, die mich an der Definition von Reife zweifeln liessen, wie andere sie mir nahegelegt hatten: "Du sollst keine kindischen Dinge tun, keine sokratischen Fragerunden starten, keine Begriffe probeweise ins Gegenteil verkehren, keine sinnfreien Wortwitze basteln, einen probaten Plan von der Zukunft haben, Dir deines ICHs ganz sicher sein, Du sollst keine Spielzeuge begehren."
Erstens rutschte mein 30-jähriger Freund immer tiefer in infantile Regressionen, heutzutage würde man vom "Schattenkind" sprechen – und weigerte sich, den Schritt aus dem Mutterhaus zu machen. Ein anderer Freund von mir sprach derweil davon, dass er den Porsche-Zweitwagen in seiner Garage zwar mangels Zeit nicht wirklich fahre, es aber schon ein tolles Gefühl sei, einen Porsche zu haben, den man nicht wirklich brauche. Und ich selbst erlebte eine Trennung, die Gefühle in mir hochsteigen liess, die ich seit der Kindheit nie mehr gespürt hatte.
Wie auch immer ich es drehte und wendete, plötzlich sah ich die Kinder in meinen Mitmenschen. Ich sah den verletzten Jungen, der aus Angst vor der Welt seine eigene kleine Blase baute und andere daraus vertrieb. Ich sah den Jungen, der "meins, nur meins!" seinen kleinen Spielzeugporsche im Wandschrank wegschloss. Ja, ich sah sogar den Jungen, mit einem rosaroten Velohelm und einer Vorliebe zu Physik, der zu seiner Gruppe sagte "das ist imfall NICHT lustig, ihr Clowns, das ist im Fall gefährlich".
Kinder, überall, Kinder. Mehr oder weniger zusätzliches Fleisch darüber, einige Masken griffbereit, einige Parolen auf der Schiefertafel. Doch in ihrem Kern: Kinder, die jederzeit vor den Mächten des Zufalls und der Natur erzittern konnten wie Espenlaub, wenn etwas nicht nach ihren Plänen lief. Kinder, die nackt und hilflos im Regen standen, wenn die Wolken über ihnen in Stücke brachen und der Blitz neben ihnen die Luft zerschnitt. Kinder, die dozierten, projizierten, lavierten und um Worte rangen. Kinder, die ohne Netz und doppelten Boden durchs Leben gingen, rannten, stolperten, fielen – und sich wieder aufrichteten.
...Kind bleiben dagegen sehr
"Die meisten Menschen legen ihre Kindheit ab wie einen alten Hut. Sie vergessen sie wie eine Telefonnummer, die nicht mehr gilt", schrieb Erich Kästner. Und mir war klar: Die Menschen, die er meinte, mochten zwar ihre Kindheit vergessen haben. Doch die Kindheit würde niemals sie vergessen. Freuden, Leiden, Triumphe und Rückschläge hatten sie alle in dieser Phase geformt, wo alles noch möglich war, aber nichts jemals sicher.
Und irgendwann, weil dieser Gedanke an Zumutung grenzt, hatten sich diese Kinder beschränkt. Das und jenes war möglich, gewiss, aber es war nicht reif. Weil, nun ja, weil Reife in etwa das sein musste, was die grosse Mehrheit als Reife ansah, weil man dann und dann in etwa dort und dort zu sein hatte, weil man sich dann und dann "gefunden haben musste". Denn kindliches Denken ist einer Zivilisation abträglich. Es kennt nur die Regeln, die es sich selbst erarbeitet hat.
Für kindliches Denken sind Chancen und Möglichkeiten jederzeit absolut real. Da steht keine Versicherung bereit, um den Zufall vermeintlich im Zaum zu halten, keine 3. Säule, um die Angst vor Alter und Langeweile zu verdrängen, kein Botox, um das Vergehen für eine Weile zu vergessen. Da gibt es keine bequemen Begrifflichkeiten, die "Reife" abzäunen können, keinen Masterplan von der Handelsschule, um dem Chaos zu begegnen.
Kinder kennen "Das Märchen vom guten Bürger" noch nicht. Von der Dramaturgie her würden sie vermutlich den "Suppenkasper" vorziehen. Sie bauen auch keine mentalen Hürden und erfinden keine Trostpflästerchen. Kinder sehen das Leben als das, was es ist: Ein jederzeit riskantes, aber auch sehr, sehr interessantes Unterfangen. Sie sind der Apfel, der nicht ist – sondern immer noch wird. Sie sind niemals die REIFE Frucht, die, heute von Würmern und Vögeln angefressen, morgen schon vom Ast fällt und übermorgen zu Matsch verfault.
"Früher waren sie Kinder, dann wurden sie Erwachsene, aber was sind sie nun?", fragte Erich Kästner. "Nur wer erwachsen wird und ein Kind bleibt, ist ein Mensch", war seine Antwort.
Und da begriff ich, was ich sein musste, um ein guter Vater zu sein. Ein Mensch nämlich, der WIRD – statt IST ("so bin ich halt"). Ein Erwachsener im Denken – und ein Kind in der Offenheit. Ein Mann, der bereit ist, alles Gesehene und Erfahrene über den Haufen zu werfen. Alles zu zweit nochmals zu sehen und nochmals neu zu erfahren. Zusammen mit meinem Sohn. Von allem Anfang an.