Frau mit Uhren

Anderszeit: Wie Menschen mit ADHS den Tag erleben

Dehnbar wie Gummi, verdichtbar wie Luft: Menschen mit ADHS nehmen die Zeit oft ganz anders wahr als Neurotypische – und haben darum mehr Mühe mit dem Abschätzen und Planen. Beispiele, Gründe und nützliche Tipps.

Noch 15 Minuten dranbleiben, weil es grad interessant ist. Dann auf die Uhr schauen und feststellen: Der Bus ist vor 15 Minuten abgefahren, denn man war eine ganze Stunde am PC oder Smartphone. Für ADHS-Betroffene ist «Zeitblindheit» oder zumindest sehr schlechtes Einschätzen der Zeit ein alltäglicher Begleiter. Nicht gerade ein leichtes Los in einer Gesellschaft, die ihre Arbeit, Mobilität und oft sogar die Freizeit auf die Minute genau durchtaktet. Geradezu quälend ist der umgekehrte Fall: Routinearbeiten, welche die Denkleistung nicht fordern, werden von ADHSlern als eine Art «leiser Tod auf Raten» empfunden. Eine Stunde davon kann sich wie ein halber Tag anfühlen, innere Nervosität steigt auf, Frust und Wut machen sich breit, das willentliche Konzentrieren wird noch schwieriger.

Mann und Uhren

Warum sind Menschen mit ADHS oft «zeitblind»?

Forscher sind dem Rätsel der Zeitwahrnehmung seit Jahrzehnten auf der Spur – die Ausbeute ist bisher allerdings relativ bescheiden. Es scheint im Gehirn nicht eine zentrale Uhr zu geben, sondern mehrere Systeme, die unterschiedliche Aspekte der Zeitwahrnehmung steuern. Emotionale Erlebnisse, wie der erste Kuss oder der Umzug in die erste eigene Wohnung, prägen sich tief ins Gedächtnis ein und beeinflussen auch unsere rückblickende Zeitwahrnehmung. Mit zunehmendem Alter und weniger neuen Erfahrungen scheinen die Jahre dann immer schneller zu vergehen – weil nicht mehr viel Neues passiert.

Der Schlüssel zur momentanen Zeitwahrnehmung liegt offenbar im Dopamin, jenem Neurotransmitter (Botenstoff), der bei ADHS in Form von Medikamenten verfügbar gemacht wird.

Drogen, die das dopaminerge System beeinflussen (Kokain, Amphetamin), können unsere innere Uhr ebenfalls beschleunigen. Forschungen an Mäusen haben zudem gezeigt, dass dopaminerge Nervenzellen in der Substantia nigra, einer tiefen Hirnregion, die Zeitwahrnehmung direkt steuern. Parkinsonpatienten, bei denen diese Nervenzellen absterben, haben oft eine gestörte Zeitwahrnehmung. Sicher ist: Emotionen und Aufmerksamkeit können die Anzahl der registrierten Impulse verändern, was wiederum unsere innere Uhr beeinflusst. Das lässt sich einfach an einem anderen Beispiel sehen. Filme im Kino laufen mit 30, vielleicht 60 Bildern pro Sekunde ab. Wir sehen nur darum einen Film, weil wir so viele Bilder nacheinander nicht als einzeln verarbeiten können. Würden wir mit den Augen einer Biene das Kino besuchen, wäre der Film eine äusserst langatmige, nicht enden wollende Diaschau. Denn Bienen sehen bis zu 200 Bilder pro Sekunde.

Mann und Sanduhren

Zusammenfassend lässt sich sagen: Unsere Zeitwahrnehmung ist ein komplexes Zusammenspiel von Hirnregionen und Botenstoffen, wobei Dopamin eine zentrale Rolle spielt. Bei Menschen mit ADHS, bei denen der Dopamin-Stoffwechsel gestört ist, führt dies fast täglich zu einer veränderten Zeitwahrnehmung. Diverse Untersuchungen kamen zum Schluss, dass ADHSler Zeitabschnitte um 30% anders in der Länge einschätzten als Nicht-Betroffene. Zudem fiel es ihnen schwerer, ein Zeitintervall korrekt zu reproduzieren (z.B. «zeichne eine Minute lang auf diesem Blatt»). Diese Schwäche korrelierte direkt mit der höheren Impulsivität. 

Wie zeigt sich die Zeitblindheit bei ADHS im Allltag?

Verspätung: Bei ADHS und Zeitblindheit ist Pünktlichkeit oft Mangelware. Der Grund? Eine verzerrte Zeiteinschätzung bei der Vorbereitung und Aufgabendauer. Zudem das völlige Ausblenden anderer Themen, wenn der «Hyperfokus» eingesetzt hat. 

Aufgaben aufschieben: Menschen mit ADHS-Zeitblindheit zögern oft bis zur letzten Sekunde. Ihr Hauptmotivator, der gut funktioniert, ist der Stress. Nicht gut, aufgrund exekutiver Dysfunktionen, funktioniert oft der gerichtete Wille. Das Resultat: Überforderung in vielen Lebensbereichen. 

Mann winkt

Zeitmanagementprobleme: Effektives Zeitmanagement? Eine Herausforderung. Schwierigkeiten beim Setzen von Prioritäten und Erstellen von Zeitplänen führen zu Frustration. Bei sich selbst und bei anderen.

Ungleichmässige Arbeitsleistung: Bei der Arbeit geht es rauf und runter. Mal sind Menschen mit ADHS Hochleistungserbringer, mal stockt der Fortschritt. Das Zeitgefühl spielt hierbei eine zentrale Rolle.

Präferenz der sofortigen Belohnung: Menschen mit ADHS haben oft Mühe mit dem «Belohnungsaufschub». Sie leben viel stärker im Jetzt – und brennen für sofortige Resultate. Ein Projekt ist erst in 3 Monaten fällig? Für den ADHSler ist es dann «aus den Augen, aus dem Sinn». Sich dafür einzusetzen, kann er sich nur vorstellen, wenn er regelmässige Teilresultate seiner Arbeit sieht.

Kind Spaceuhr

Zeit «sehen», Zukunft «fühlen»: Zeitmanagement bei ADHS

Folgende Zeitmanagement-Strategien können bei ADHS helfen, die eigene Aufmerksamkeit zu managen, sich von der Gegenwart stärker zu lösen und den Zeithorizont zu erweitern – «um auch die Zukunft zu spüren»:

Versuchungen reduzieren: Jede Unterbrechung der Aufmerksamkeit ist bei ADHS wie ein Würfelwurf – man weiss nie, ob man wieder auf Kurs kommt. Reine Willenskraft ist zu unzuverlässig, um zeitraubenden Ablenkungen wie einem Smartphone und Social Media zu widerstehen. Legen Sie es weg, sperren Sie es ein.

Vergehende Zeit jederzeit im Blick: Verlassen Sie sich nicht auf Ihre innere Uhr. Verwenden Sie analoge Uhren in Ihrer Nähe, um die Zeit zu sehen. Noch besser, gerade für kurze Zeiteinheiten (bis 60 min), sind visuelle Timer, bei welchen die Zeit farbig sichtbar vergeht. Setzen Sie Erinnerungen auf Ihrem Telefon oder auch einen einfachen Küchentimer für Ihre Aufbruchzeiten.

Die Zukunft fühlen: Konstruieren Sie Konsequenzen. Wie wird es sich anfühlen, wenn ich drei Wochen Arbeit in einer Woche werde erledigen müssen? Falls nicht so gut: Was aus meinem Projekt könnte ich heute machen, das mir am Abend sogar ein gutes Gefühl des «Fertigseins» vermittelt?

Uhren Sand

Pausen-Taktik: Regelmässige Unterbrechungen strukturieren den Tag und schärfen den Blick fürs Wesentliche. Nutzen Sie die Pausen, wenn möglich, auch für Bewegung. Konzentration fällt nach Bewegung erwiesenermassen leichter.

Dringende Aufgaben zuerst (nicht spannende): Was brennt, was kann warten? Eine klare Liste sortiert nach Dringlichkeit hilft, den Tag effizient zu gestalten. Nutzen Sie dazu ruhig Farben, Icons, was auch immer sich vom «langweiligen Screen» oder weissen Papier gut abhebt. ADHSler sind oft sehr visuell veranlagt, «Marker» bündeln unsere Willenskraft.

Projekte zerlegen: Grosse Herausforderungen unbedingt – ohne Wenn und Aber – in kleine Etappen teilen. Regelrecht zerstückeln, soweit es halt noch Sinn macht. Das macht den Fortschritt sichtbar und die Zeitplanung realistischer. Jeden Tag etwas geschafft haben? Das ist etwa der Horizont, der sich bei ADHS befriedigend anfühlt.

Mann sitzt

Nachtrag: Sie haben den Artikel bis zum Ende gelesen, obwohl sie «neurotypisch» sind, also kein ADHS haben. Gratuliere. Doch da stört Sie etwas gewaltig. Denn die veränderte Zeitwahrnehmung kennen Sie auch. Der Tag mit dem Freund war so kurz, die drei Stunden Arbeit an der Excel-Tabelle haben sich so lang angefühlt. Ja, natürlich. Nun stellen Sie sich einen Regler von 1 bis 5 vor, was diesen Effekt angeht. Bei Ihnen steht er vielleicht auf 1 oder 2. Bei ADHS fast permanent auf 4 oder 5. Es geht eben – wie auch bei der Unaufmerksamkeit oder Impulsivität – nicht darum, dass «Normalos» DAS nicht kennen würden. Sondern darum, wie stark der Effekt ist – und wie heftig er darum auf unser Leben wirken kann.

 

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