Menschen mit ADHS haben eine „Aufmerksamkeit im Stressmodus“. Darum bekunden sie solche Mühe mit willentlicher Konzentration. Brennen sie allerdings für eine Sache, versinken sie oft komplett darin.
Keine Störung der Aufmerksamkeit, sondern eine Störung der Fähigkeit zur Aufmerksamkeitslenkung: So lässt sich ADHS wohl am besten zusammenfassen. Klingt kompliziert – und das ist es auch, zumal das menschliche Gehirn mit seinen ca. 100 Milliarden Nervenzellen kein einfaches Organ ist. Grob gesagt, ist bei ADHS-Betroffenen das vordere Aufmerksamkeitssystem beeinträchtigt (Stirnhirn), während die Aufmerksamkeit in hinteren Hirnteilen zu stark hochgefahren ist (empfänglich für alle möglichen Reize). Ein Modus also, den neurotypische Menschen fast nur aus Ausnahmesituationen kennen.
Hintere Aufmerksamkeit hat biologische Priorität...
"Konzentrier dich, Du willst bloss nicht!“ schiesst als Ratschlag an ADHS-Kinder deshalb völlig am Ziel vorbei. Der Tipp ist etwa gleich nützlich wie „iss doch mit den Füssen, wenn Du die Hände nicht frei hast“. Der Grund: Die ungerichtete Aufmerksamkeit aus den hinteren Hirnteilen hat für das Gehirn Priorität. Sie sichert nämlich das eigene Überleben. So wird auch eine konzentriert lesende Mutter (>Aufmerksamkeitssystem im Stirnhirn aktiv) jederzeit sofort aufspringen, wenn sie ihr Baby schmerzverzerrt schreien hört (>Aufmerksamkeitssystem in den hinteren Hirnteilen aktiv).
Hyperfokus: Ein Stirnhirn, das auf Hochtouren läuft
Die Vorstellung einer besonderen Fähigkeit zur Konzentration trotz eines Aufmerksamkeitsdefizits mag auf den ersten Blick widersprüchlich erscheinen. Jedoch bestätigen Wissenschaftler des "FMH Psychiatrie und Psychotherapie" in Affoltern am Albis, dass Menschen mit ADHS eine bemerkenswerte Konzentrationsfähigkeit entwickeln können, wenn sie sich für eine Aufgabe aus eigenem Antrieb sehr begeistern. Das sogenannte Hyperfokussieren stellt eine spezielle Form der Konzentration dar, bei der wiederum äussere Reize fast oder gar nicht mehr wahrgenommen werden. Eltern von ADHS-Kindern brauchen keine Studie, um das zu bestätigen. Sie kennen die beinahe neurotisch anmutende Faszination ihres Nachwuchses, was bestimmte Dinge, Themen und Hobbys angeht („länger dranbleiben“ ist dann wieder eine andere Geschichte...).
Wenn ADHS-Betroffene eine besondere Motivation für eine bestimmte Sache entwickeln, sind sie also in der Lage, Themen sehr schnell zu verstehen und ohne Unterbrechung intensiv und ausdauernd zu arbeiten. Notabene das pure Gegenteil des im ersten Abschnitts beschriebenen Phänomens. Kein Wunder, dass neurotypische Menschen mit diesen extremen Gegensätzen Mühe bekunden. „Entweder angezogene Handbremse oder aber Vollgas und Turbo“. Ähnliche Sätze dürften Menschen mit ADHS im Verlauf ihres Lebens des öfteren von Lehrpersonen oder Chefs zu hören bekommen.
Voraussetzung für den Hyperfokus ist ein starker, freudig erwarteter Stimulus. Der Psychologe Edmund Sonuga-Barke von der "University of Southampton" stellte bereits 1998 fest, dass ADHS-Kinder durch die Kraft dieser Motivation Gleichaltrigen überlegen sein können. Der Hyperfokus bietet gerade dann grosse Vorteile, wenn ein Thema selbständig bearbeitet werden muss. Dies könnte auch erklären, warum überdurchschnittlich viele Menschen mit ADHS sich selbständig machen und flexible Arbeitszeiten bevorzugen.
Nachteile des Hyperfokus bei ADHS
Naturgemäss kann der enorme Fokus auf nur eine Sache, trotz aller Vorteile, Probleme im Beruf oder im sozialen Umgang nach sich ziehen. Im Folgenden die häufigsten Herausforderungen:
- Übermässige Konzentration auf jene Berufselemente, die Freude bereiten, während andere Aspekte vernachlässigt werden (vor allem Routinetätigkeiten, Administration, Dokumentation, Information von Teamkollegen)
- In Konflikte mit dem Lebenspartner, Freunden oder Familienmitgliedern geraten (weil wegen eines faszinierenden Projekts alles andere liegenbleibt, vielleicht auch Verabredungen, Feste, Geburtstagsdaten vergessen werden)
- Probleme, weniger spannenden Aufgaben den Vorrang vor interessanteren, aber weniger wichtigen Tätigkeiten zu geben (Priorisierung erfolgt konsequent nach Interesse, statt nach Dringlichkeit)
- Vernachlässigung von Haushaltsaufgaben, Rechnungsabwicklung und weiteren Verpflichtungen im privaten Umfeld (Klassiker: Steuererklärung bleibt liegen, bis Einschätzung und Bussen folgen)
- Mangel an Zeit für Erholung und Aktivitäten zur Selbstpflege (sogar regelmässiges Essen wird vergessen, Arbeit bis in die Nacht hinein etc.)
- Geringe Zeit für soziale Kontakte und Familienleben (dem Projekt wird Vorrang vor dem sozialen Austausch gegeben, der eher als Störung empfunden wird)
- Übermässige Arbeitsbelastung aufgrund impulsiver Entscheidungen (ADHS-Betroffene laden sich noch mehr auf, obwohl schon unter Wasser. Hauptsache interessant)
- Das Versäumen von Deadlines und Meetings (Sitzungen gehen im Hyperfokus komplett unter, Zeitbegriff ebenfalls. Person ist völlig absorbiert. 2 Stunden können wie 20 min erscheinen)
Tipps zum nachhaltigen Umgang mit dem Hyperfokus
Hier sind einige unkomplizierte – aber wirkungsvolle – Massnahmen, die Sie treffen können, um Ihre intensive Konzentration zu leiten und Ihre Aufmerksamkeit neu auszurichten.
- Definieren Sie klare Ziele und setzen Sie Prioritäten. Erarbeiten Sie jeden Morgen eine To-Do-Liste
- Markieren Sie alle Ihre To-Dos entsprechend ihrer Priorität und Dringlichkeit
- Zerlegen Sie umfangreiche Projekte in kleinere, leichter handhabbare Aufgaben
- Schätzen Sie ab, welche Aktivitäten Sie besonders lange binden werden. Planen Sie diese nur dann ein, wenn Sie genügend Zeit dafür haben
- Verschieben Sie die nicht dringlichen To-Dos auf eine separate Liste für einen anderen Tag
- Organisieren Sie Ihre Zeit mit Hilfe von Erinnerungen, wie z.B. einem visuellen Timer. Legen Sie damit Alarme fest, die Sie darauf hinweisen, dass es Zeit ist, zu einer anderen Aufgabe überzugehen
- Bitten Sie ein Familienmitglied oder einen Freund um Unterstützung, um Sie aus einer Tätigkeit zu holen, die zu viel Ihrer Zeit beansprucht
- Integrieren Sie bei langen Projekten und zeitaufwändigen Aktivitäten regelmässige 5- bis 10-minütige Pausen. Am besten kombiniert mit kleinen Bewegungs-Einheiten (Stretching, 10-min-Fitness, Spaziergang etc.)
- Stellen Sie für Sitzungen usw. Erinnerungen und andere "aufdringliche" Benachrichtigungen auf Ihren Geräten ein, die Sie nicht übersehen/überhören können
- Sehen Sie die äusserst positive Seite dieser Gabe: Sie sind die Frau/der Mann, die/den es braucht, wenn „Feuer gelöscht werden müssen“. Kaum jemand sonst verfügt über Ihre grosse Fähigkeit zur ruhigen Konzentration unter höchstem Zeitdruck