Mutter hilft bei Hausaufgaben

ADHS-Kinder und die Sache mit der Konzentration

Wie kann es passieren, dass ein Kind mit ADHS ständig in der Schule und bei Hausaufgaben abgelenkt ist, aber beim Spielen, Fernsehen oder Gamen stundenlang fokussieren kann? Als Elternteil haben Sie vielleicht oft erstaunt darüber den Kopf geschüttelt. Verwandelt sich auch Ihr Kind, wenn es seine Aktivität selbst wählen kann? "Plötzlich" können diese Kinder stundenlang in ihrem Legospiel versunken sein, sich intensiv mit dem neuen Comic auseinandersetzen und lassen sich während ihrer Lieblingssendung von nichts und niemandem ablenken.

Aus diesem Grund haben Aussenstehende oft den Eindruck, dass ADHS-Kinder "sehr wohl aufpassen könnten, wenn sie nur wollten oder richtig erzogen worden wären." Wir möchten dieses Vorurteil zerstreuen. In diesem Artikel untersuchen wir daher die Ursache des Aufmerksamkeitsdefizits und erklären, warum Kinder mit ADHS eine andere Form der Aufmerksamkeit zeigen.

1. Die Aufmerksamkeit im Hinterkopf

Werfen wir dazu erst einen Blick auf die Neurowissenschaft: Wie Goleman (2014) betont, gibt es nicht DIE Aufmerksamkeit. Wir haben stattdessen verschiedene Aufmerksamkeitssysteme, die für verschiedene Aufgaben zuständig sind. Ein System ist hauptsächlich im Hinterkopf lokalisiert und beinhaltet hauptsächlich tiefere Hirnstrukturen. Während wir unseren Alltag verbringen, "summt dieses System leise vor sich hin" (Goleman, 2014). Es reagiert auf ansprechende Bilder, Geräusche, Gerüche und Ereignisse in unserer Umgebung und antwortet darauf sehr schnell, unwillkürlich und intuitiv. Wir müssen unsere Aufmerksamkeit dann nicht bewusst lenken, weil uns etwas intuitiv als interessant oder wichtig erscheint (wie das Videospiel) oder bestimmte Gefühle in uns weckt (wie wenn eine Mutter ihr weinendes Baby hört).

Kinder mit ADHS zeigen eine hohe Reaktionsfähigkeit: Sie werden fast magisch von allem in ihrer Umgebung angezogen, das gross, hell, laut, farbenfroh ist oder sich bewegt (Zentall, 2005). Ihre Aufmerksamkeit wird so stark von der TV-Sendung oder dem spannenden Spiel in Anspruch genommen, dass sie mühelos bei diesen Aktivitäten "hängen bleiben". Hausaufgaben oder Unterricht erfüllen selten diese Kriterien, daher ist eine bewusste Lenkung der Aufmerksamkeit notwendig (wir werden später auf diesen Punkt eingehen).

Diese tieferen Hirnstrukturen sind auch dann aktiv, wenn wir routinemässige Tätigkeiten ausführen. Gewisse Alltagsaktivitäten wie das Kaffeezubereiten, das Verriegeln der Tür oder das Autofahren laufen demnach so automatisch ab, dass wir nicht bewusst über die einzelnen Schritte nachdenken müssen (Vielleicht haben Sie sich schon einmal gefragt, ob Sie die Haustür abgeschlossen haben, während Sie zur Arbeit fuhren...). Dies erklärt, warum Kinder mit ADHS von Routinen im Alltag profitieren. Wenn bestimmte Prozesse so oft wiederholt wurden, dass sie in tiefere Hirnstrukturen verlagert wurden, ist kaum mehr bewusste Konzentration erforderlich.

2. Die Aufmerksamkeit im Stirnhirn

Das andere Aufmerksamkeitssystem liegt hauptsächlich direkt hinter der Stirn. Es wird aktiviert, wenn wir uns bewusst auf einen bestimmten Gedanken oder eine Aktion konzentrieren möchten oder wenn wir neue Pläne schmieden und diese ausführen. Diese willentliche Lenkung der Aufmerksamkeit ist relativ langsam und erfordert Anstrengung. Wir brauchen dieses System, um bei zeitintensiven und langweiligen Aufgaben am Ball zu bleiben, um unwichtige Reize zu ignorieren und uns selbst zu kontrollieren ("Hier liegt der Fokus, XY ist momentan nicht wichtig." oder "Du würdest jetzt wirklich gerne diese Fernsehsendung schauen. Aber morgen hast du deine Mathematikprüfung und du solltest jetzt besser lernen.").

Interessanterweise können diese Gehirnbereiche unbemerkt in einen anderen Modus wechseln: Unsere Aufmerksamkeit wird dann unbewusst nach innen gerichtet: die Gedanken beginnen zu schweifen und wir verfallen in Tagträumereien. In diesem Zustand nehmen wir kaum mehr wahr, was um uns herum passiert. Gleichzeitig ist die bewusste Lenkung der Aufmerksamkeit blockiert - wir bemerken also überhaupt nicht, dass wir nicht mehr bei der Sache sind.

Mithilfe von bildgebenden Verfahren konnte nachgewiesen werden, dass Menschen mit ADHS viel häufiger in diesen "Tagtraummodus" fallen. Dieser Modus hat einen entscheidenden Vorteil: Er ermöglicht es, unkonventionelle Lösungen zu finden und Probleme auf eine kreativere Weise zu lösen. Gleichzeitig verhindert dieser Modus, dass relativ langweilige Aufgaben konzentriert zu Ende geführt werden können und dass neue Informationen gespeichert werden - das Lernen wird dadurch ineffizient.

ADHS: Ein Defizit der Aufmerksamkeitslenkung

Wir können schlussfolgern, dass sich Kinder mit ADHS anders konzentrieren: Ihr "hinteres Aufmerksamkeitssystem" ist sehr aktiv und zieht die Betroffenen blitzschnell zu neuen, spannenden oder emotionalen Reizen hin. Andererseits ist die bewusste Lenkung der Aufmerksamkeit im vorderen Aufmerksamkeitssystem aufgrund des relativ häufigen Gedankenschweifens und der Tagträumereien oft blockiert.

ADHS ist daher kein "Aufmerksamkeitsdefizit", sondern ein "Defizit der Aufmerksamkeitslenkung". Die Probleme treten insbesondere bei Aufgaben auf, die lange dauern, die für das Kind langweilig oder repetitiv sind. Daher ist es kein Wunder, dass Kinder mit ADHS bei Hausaufgaben und im Unterricht oft Schwierigkeiten haben, ihre Aufmerksamkeit zu behalten, während sie bei anderen, spannenderen Aktivitäten wie Spielen oder Fernsehen stundenlang konzentriert bleiben können.

Es ist wichtig zu verstehen, dass Kinder mit ADHS nicht einfach "unwillig" oder "schlecht erzogen" sind. Sie haben tatsächlich Schwierigkeiten mit der Lenkung ihrer Aufmerksamkeit, und dies ist eine neurologische Herausforderung, nicht ein Zeichen von Faulheit oder Ungehorsam. Mit dem richtigen Ansatz und Unterstützung können jedoch Strategien und Routinen entwickelt werden, die Kindern mit ADHS helfen, ihre Aufmerksamkeit effektiver zu steuern und in verschiedenen Situationen erfolgreich zu sein.

ADHS-Kinder optimal in Aufmerksamkeit unterstützen

Wir können Kinder mit ADHS bei Lernaufgaben und Hausaufgaben unterstützen, indem wir...

  1. Ablenkende Reize, die Aufmerksamkeit erfordern und in Sicht- oder Hörweite sind, minimieren.
  2. Das Kind dazu anregen, seine aktuelle Konzentrationsfähigkeit selbst einzuschätzen.
  3. Dem Kind beibringen, wie es bewusst in eine Aufgabe einsteigen und sich wieder davon lösen kann.
  4. Dem Kind durch Signale helfen, aus Tagträumen herauszukommen und sich wieder auf die Aufgabe zu konzentrieren.
  5. Regelmässige Pausen einlegen, in denen sich das vordere Aufmerksamkeitssystem erholen kann.

Wenn Sie detailliertere Informationen darüber wünschen, wie Sie diese Hilfestellungen in Ihren Alltag integrieren können, empfehlen wir entsprechende Weiterbildungen oder Seminare zum Thema „Erfolgreich lernen mit AD(H)S“.

Gleichzeitig kann die Tagträumerei von Kindern mit ADHS als eine Stärke genutzt werden. Denn wenn Kinder ihre Aufmerksamkeit nach innen richten, können sie Erlebnisse verarbeiten, neue Ideen entwickeln, Pläne schmieden und ihre Grenzen setzen. Viele kreative Menschen - Künstler, Schriftsteller, Unternehmer - sind Tagträumer. Sie nehmen sich die Zeit, Ideen zu Ende zu denken und sich eine andere Zukunft vorzustellen, ohne diese sofort als unrealistisch oder unvernünftig zu verwerfen.

Viele Unternehmen bemängeln, dass ihre Mitarbeiter zu angepasst sind - es fehlt an Innovationsfreude, Flexibilität und der Fähigkeit, "ausserhalb der Box" zu denken. In der Berufswelt sind daher bestimmte Fähigkeiten von Menschen mit ADHS heute gefragter denn je: Ihre Neigung zur Tagträumerei befähigt sie oft dazu, kreative Ideen zu entwickeln, unkonventionelle Lösungen zu finden und aussergewöhnliche Pläne zu schmieden.

Als Eltern können Sie Ihrem Kind helfen, seine Fantasie und Träumerei zu nutzen, indem Sie diese akzeptieren und gelegentlich bewusst in eine bestimmte Bahn leiten. Vielleicht hat Ihr Kind Schwierigkeiten, sich den Inhalt eines Geschichtstextes zu merken. Aber wenn es dazu angeregt wird, sich lebhafte Bilder oder einen "inneren Dokumentarfilm" zu dem Gelesenen vorzustellen, kann es oft leichter lernen.

Statt sich über ihre "zerstreute und verträumte" Art zu ärgern, können ADHS-Betroffene diese nutzen, um sich zu organisieren: Sie können etwa den kommenden Tag bildlich in ihrem Geist durchspielen und sich dabei Fragen stellen wie: Was brauche ich? Woran muss ich denken? Was sollte ich mitnehmen? Ihre ausgeprägte bildliche Vorstellungskraft hilft ihnen dabei, sich zu strukturieren.

Das Rollenspiel als patenter Motivator

Ausserdem sind viele Kinder mit AD(H)S sehr an Rollenspielen interessiert. Vielleicht mögen sie es nicht, aufzuräumen. Aber wenn sie mit ihren Geschwistern eine "Putzbrigade" bilden, bei der vielleicht sogar die Zeit gestoppt wird, können sie sich schnell motivieren - schliesslich geht es nicht ums Aufräumen, sondern um ein Spiel. Anstatt einfach die Physikaufgaben zu erledigen, stellen sie sich vor, sie wären einer dieser coolen Charaktere aus der "Big Bang Serie". Während sie ihre Berechnungen durchführen, werden sie zum Hauptbuchhalter eines Unternehmens.

ADHS-Kinder tun sich oft schwer, etwas zu tun, das ihre Aufmerksamkeit nicht automatisch einfängt. Manchmal aber werden sie wahre Experten darin, sich mit solchen "Träumerei-Tricks" selbst zu motivieren. Je mehr Sie als Eltern in die Fantasiewelt Ihres Kindes eintauchen und es dazu ermutigen, die damit verbundenen Fähigkeiten zu nutzen, anstatt dagegen anzukämpfen, desto leichter wird es.

Viele Kinder und Jugendliche mit ADHS sind oft überrascht, wenn sie feststellen, dass sie ihre Träumerei als Stärke nutzen können. Wenn es ihnen gelingt, die Stärke hinter der Schwäche im Alltag zu entdecken, stärkt dies auch ihr Selbstvertrauen und ihr Selbstwertgefühl.

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