Sie haben keine Ahnung, was alles schieflaufen kann
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Wussten Sie, dass es Luft auch flüssig gibt? Kennen Sie sich mit Schwerkraft aus? Vieles wissen wir nicht im Ansatz. Bei ADHS sind aber die Nichtwisser am lautesten. Zeit für einen Crashkurs zum 8. Weltwunder: Dem Gehirn.
Wir atmen Sie täglich ein – und auf dem Land riecht sie deutlich frischer: Unsere Luft. 78% Stickstoff, 21% Sauerstoff und ein paar Spurenelemente. Ein Gasgemisch. Doch haben Sie gewusst, dass Luft auch flüssig werden kann? (bei ca. minus 190 Grad Celsius). Wenn Sie auf sprudelnde Drinks stehen, können Sie sich sogar ein paar Luftwürfel in den Cocktail werfen (minus 273 Grad).
Das Beispiel zeigt: Was wir nicht wissen, wo wir nicht reinsehen, das basteln wir uns zurecht od. übernehmen es von der Allgemeinheit. Psychologen sprechen auch von der sogenannten Black Box. Beispiele? «Schwere Steine fallen schneller als leichte». «Adolf Hitler…krasser Diktator, hat alles mit Gewalt erreicht». «Iss deinen Spinat, denn der hat viel Eisen».
Falsch.
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Felsen, Kiesel, Pfauenfeder…fällt alles gleich schnell. Die Erdanziehung gilt für alle. Für das Experiment brauchen Sie aber ein langes Vakuumglas, denn in der Luft hat die Feder Auftrieb.
- Hitlers NSDAP erhielt 1932 ganze 37.3% der Stimmen. In einer freien Wahl. Derweil wurden den demokratischen Parteien harte Abfuhren erteilt.
- Der Physiologe Gustav von Bunge hat 1890 den Eisengehalt von Spinat untersucht – und sich um das Zehnfache verrechnet. Eisenhaltiges Essen? Fleisch, Kleie, Sojabohnen.
Und was hat das jetzt mit dem Gehirn zu tun?
Tickt bei Ihnen alles richtig? Haben Sie alle Tassen im Schrank? Ist Ihnen ein Licht aufgegangen? Unsere Sprache, wenn es um das menschliche Gehirn geht. Doch dort tickt nichts, es gehen keine Lichter an – und es springen auch sicher keine Funken (der Inspiration). Wir sprechen über das Gehirn, als wäre es eine Maschine. Der Kopf-Querschnitt mit den Zahnrädchen drin – ebenfalls so ein Bild, das mehr Verwirrung stiftet als Wissen schafft (oder Absicht? Maschinen sind ja so kontrollierbar).
Das «mechanistische Bild des Geistes» hält sich also bis heute hartnäckig, denn die alternative Wahrheit macht etwas Angst: Wir WISSEN bis heute NICHT, WIE GENAU unser Gehirn die Wunder erwirkt, die es täglich vollbringt. Nur, dass dort etwa 86 Milliarden Nervenzellen über ca. 100'000 Milliarden Kontaktpunkte (100 Billionen Synapsen) miteinander kommunizieren. Vernetzt eben. Nicht gesteckt, geschraubt oder nach einem bestimmten Plan geschaltet.
Die einzige korrekte Reaktion auf gut ablaufende Gehirnprozesse – verständliche Sprache, koordinierte Bewegung, funktionierende Planung – ist also erst einmal DEMUT. Denn selbstverständlich ist das alles nicht. Oder wie es ein Ingenieur einmal in Bezug auf Passagierflugzeuge ausdrückte (sind aber ja deutlich weniger komplex): «Mich wundert nicht, dass sie ab und zu abstürzen. Mich wundert, dass sie so lange so zuverlässig fliegen».
Phineas Gage (oder «wie eine Eisenstange beim Denken hilft»)
Im Herbst 1848 passt ein nordamerikanischer Eisenbahnarbeiter nicht auf, als er Schwarzpulver in ein Sprengloch füllt, das vor der Zündung gut gestopft werden muss. Bohren, Pulver rein, Sand rein, stopfen. Bohren, Pulver rein, Sand rein...den ganzen Tag lang.
Gage ist wohl übermüdet. Er wählt leider: Bohren, Schwarzpulver rein, Stopfen.
Die Konsequenz ist «PENG!». Die Stange (1 m lang, 3.2 cm Durchmesser) schiesst aus dem Loch, durchbohrt seinen Schädel und landet dann 20 Meter hinter ihm auf dem Boden.
Doch dann geschieht ein Wunder: Der 25-jährige Mann spricht schon wenige Minuten nach dem Unfall wieder, er kann sogar zum Arzt gehen, ein paar Monate später kehrt er zurück an die Arbeit. Erinnerungen, Verständnis, Fingerfertigkeit, alles noch da.
Allerdings ist er nicht mehr derselbe Mensch – und zwar so ganz und gar nicht.
Früher vorbildlich, verantwortungsvoll und still, ist Phineas Gage nun ein leidenschaftlicher Flucher, reisst derbe Witze, ist launenhaft und respektlos. Auf Anweisungen reagiert er barsch oder wütend.
Das «Gleichgewicht zwischen Gages geistigen Fähigkeiten und seinen tierischen Leidenschaften» sei verlustig gegangen, notiert sein behandelnder Arzt. Zudem schmiedet Gage diverse Pläne für die Zukunft, setzt diese aber niemals um. Anderen Berichten zufolge soll er noch der Spielsucht verfallen sein. Im Alter von 36 Jahren stirbt er an einem epileptischen Anfall – wohl eine Spätfolge des Unfalls.
Der «Stangenmann» verhalf jedoch der Neurowissenschaft zu einem Durchbruch. Es wurde erkannt, dass unser Stirnhirn – der präfrontale Cortex – sehr wichtige Funktionen erfüllt: Planung, Affekt-Kontrolle, Initiative, Konzentration, Entscheidungsfindung gehören dazu. Und eben auch ethisch-soziales Handeln.
Eine Eisenstange brachte die Neurowissenschaft also effektiv «zum Denken». Das Hirn, die kleine Maschine, in die man Wissen füllen kann wie Sand (oder Schwarzpulver…) – dieses Bild musste von Grund auf revidiert werden.
«ADHS bitte, ich möchte etwas zu ADHS lesen»
Kommt. Geduld. Die ist ja zwar bei ADHS-Betroffenen auch nicht gerade eine Stärke. Bei Erklärungen zum Gehirn ist sie aber eben einfach nötig.
Der präfrontale Kortex ist auch bei ADHS-lern ein grosses Thema. Genauer gesagt seine Rolle bei der Impulskontrolle (hohe Impulsivität), bei der Konzentration und Planung (Unaufmerksamkeit, Ungeduld) und bei der Frage der inneren Ruhe (Hyperaktivität, Nervosität). Medikamente wie Ritalin, Amphetamin – oder verzögert wirkende Varianten davon – bringen Menschen mit ADHS mehr in den ruhigen, konzentrierten und gewissenhaften Denker rein, vereinfacht gesagt. Die sogenannte «gerichtete Aufmerksamkeit» (Stirnhirn) wird durch die künstliche Erhöhung des Dopaminspiegels verbessert.
Leider ist das aber noch nicht die ganze Miete. Erstens entwickelt das Gehirn mit der Zeit eine Toleranz gegen diese Substanzen. Zweitens wurde nachgewiesen, dass bei ADHS auch weniger Blutzucker in den vorderen Hirnabschnitten verbraucht wird. Drittens wird Dopamin, dieser wichtige Botenstoff des Gehirns, bei ADHS offenbar zu schnell wieder resorbiert, steht also weniger lang zur Verfügung (Unterschiede im Dopamin-Transporter-Protein DAT). Auch Grössenunterschiede im präfrontalen Cortex und im Striatum (motorische Kontrolle, Belohnungsverarbeitung) wurden belegt.
Was unsereins hingegen gut kann: Verknüpfen. Und zwar so ziemlich alles mit allem. Weil unser Kurzzeitgedächtnis zwar oft zu wünschen übrig lässt ("Pulli, wo?!, "Zug, wann?!"), unser Langzeitgedächtnis aber nicht. Erinnerungen an einen Film vor 30 Jahren? Kein Problem. Im Detail. Wenn er spannend war. Und der Film hat dann auch grad etwas mit dem Thema zu tun, dass Sie mit ihrem Freund am Besprechen sind.
Kompliziert, anspruchsvoll, ermüdend. Aber irgendwie auch spannend, oder? Wir haben es beim Gehirn eben nicht mit einem Uhrwerk zu tun, sondern mit so etwas wie dem 8. Weltwunder. Und das ist wohl auch gut so. Denn im Leben zählen bekanntlich nicht die Stunden – sondern die Freude, die Liebe und der Sinn, den wir in diese Stunden füllen.
Da sind Wunder doch immer willkommen.