ADHS-Denken: Himmelsbrücke und Stolperstein
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«Ja, die Polkappen schmelzen wohl wegen des Klimawandels. Dann treiben die Eisbären auf abgebrochenen Eisschollen ins Meer. Wusstest Du, dass es am Südpol gar keine Eisbären gibt, am Nordpol dafür keine Pinguine? Und Pinguine, die brennen übrigens gut. Verzweifelte Polarforscher haben die ins Feuer geworfen, um nicht erfrieren zu müssen…»
Et voilà. Divergentes Denken eines Menschen mit ADHS. Interessant, nicht? Nur, dass Sie eigentlich über den Klimawandel sprechen wollten. Und nun sitzen Sie gedanklich mit zwei halb erfrorenen Polarforschern namens Svensson und Knutsson an einem grossen Feuer, den Geruch von verbranntem Pinguinfett in der Nase.
Man hat es nicht immer einfach im Gespräch mit ADHS-Betroffenen. Doch sehr einfach «hat es einen».
1. Divergentes Denken: Definition und Bedeutung
Divergentes Denken ist eine kreative, nichtlineare und flexible Denkweise, bei der eine Vielzahl von Einfällen, Ideen und möglichen Lösungen für ein Problem oder eine Fragestellung generiert wird. Im Gegensatz zum konvergenten Denken, das auf logische und lineare Schlussfolgerungen abzielt, fördert divergentes Denken die Entstehung von neuen Ideen und Innovationen. Es ist eine Schlüsselkomponente von Kreativität und Problemlösung.
Diese Art des Denkens kann durch Methoden wie Brainstorming, Mindmapping, kreatives Schreiben, Analogien und Metaphern getriggert/vertieft werden. Oder Sie besitzen ein Gehirn mit ADHS. Dann müssen Sie einfach nur an den Tisch sitzen und alles aufzeichnen/aufschreiben, was Ihnen gerade in den Sinn kommt. In ca. 15-30 Minuten werden Sie ein riesiges Mindmap vor sich haben, in dessen Mitte dann zum Beispiel «Klimawandel» steht. «Ökosysteme» dürfte nicht sehr weit davon zu liegen kommen. Mit «Nordpol» und «Südpol» haben Sie auch gleich jene Orte abgesteckt, wo die grössten Eismassen schmelzen. In der Vergangenheit waren die noch viel grösser. Das wissen wir dank der Polarforschung.
Tja, und plötzlich sitzen Svensson und Knutsson gar nicht mehr so weit weg wie vorher. Sie haben soeben nachvollzogen, wie Menschen mit ADHS (die allermeiste Zeit) denken, verknüpfen und schlussfolgern.
Beispiele konvergentes vs. divergentes Denken:
Konvergentes Denken: "Beim Lösen einer Mathematikgleichung gibt es nur eine korrekte Antwort, und durch systematisches Anwenden von Formeln und Regeln kann man diese finden."
Divergentes Denken: "Um neue Ideen für ein Produkt zu entwickeln, brainstormten wir in der Gruppe, wobei jeder eine Vielzahl von unkonventionellen und kreativen Vorschlägen einbrachte. Drei davon können wir umsetzen."
2. ADHS und divergentes Denken
Diverse psychologische Tests und Studien haben gezeigt, dass Menschen mit ADHS häufig ein höheres Mass an divergentem Denken aufweisen als ihre Altersgenossen ohne ADHS. Sie neigen dazu, alternative Denkwege zu erkunden und weniger konventionelle Lösungen für Probleme zu finden. Diese Denkweise kann im beruflichen Leben von grossem Nutzen sein. Etwa dann, wenn Probleme zu komplex sind, um alle relevanten Faktoren für eine gute Lösung einzubeziehen.
Denn gerade in diesen Fällen können neue, komplett von alten Lösungsmodellen abweichende Ansätze, zu einem Durchbruch verhelfen. Manchmal auch einfach zu einem befriedigenden ersten Schritt. Oder zu einem klassischen «Workaround». Beim Träumen denken wir alle hochgradig divergent. Und in diversen Fällen haben Träume zu wissenschaftlichen Durchbrüchen geführt.
ÖIn unserer sogenannten VUCA-Welt, die sich rasant verändert – und in der sich Herausforderungen ständig wandeln – kann sich divergentes Denken also bewähren. Denn der Denkansatz bricht – unberechenbar – mit traditionellen, linearen Mustern, indem er das Unwahrscheinliche sucht, vermeintlich unwandelbare Bedingungen (Axiome) in Frage stellt und gedankliche Sprünge sowie diffuse Assoziationen zulässt. Selbst «falsche» Gedankengänge oder scheinbar nicht durchführbare Lösungen können wertvolle Schritte zur Erkenntnis darstellen, solange sie schliesslich zum roten Faden zurückführen.
Haben Sie sich z.B. jemals gefragt, was Sie alles tun könnten, um Ihre aktuelle Liebesbeziehung so richtig in den Sand zu setzen? Nicht, denn Sie sind schliesslich nicht wahnsinnig? Schade. Denn genau dieses Gedankenexperiment ("Advokat des Teufels") wird in der Wirtschaft und Wissenschaft erfolgreich eingesetzt, um auf gute Lösungen zu kommen. Um einen Nutzen daraus zu ziehen, müssen Sie einfach den Ausdruck «tun können» später mit «besser vermeiden» ersetzen. Und wenn sie einige destruktive Verhaltensweisen im Umgang mit Ihren Mitmenschen weglassen, haben Sie schon enorm viele Hindernisse für gute Beziehungen und Freundschaften beiseite geräumt.
3. Vorteile des divergenten Denkens
a) Kreativität und Innovation: Divergentes Denken ist in vielen Berufen von entscheidender Bedeutung, insbesondere in kreativen Branchen wie Design, Werbung und Medien. Menschen mit ADHS können ihre kreativen Fähigkeiten dort besonders gut nutzen, um innovative Ideen und Lösungen zu entwickeln («out of the box»-Ansätze).
b) Teamarbeit: Ihr divergentes Denken kann dazu beitragen, dass Menschen mit ADHS wertvolle Beiträge zu Gruppendiskussionen leisten. Ihre Fähigkeit, unkonventionelle, zensurfreie Perspektiven einzubringen, fördert damit die Innovationskraft und Anpassungsfähigkeit von Teams, gerade während Brainstormings. Ein wichtiger Erfolgsfaktor in Zeiten grösserer Veränderungen.
c) Problemlösung: Im Berufsleben können Menschen mit ADHS von ihrer Fähigkeit profitieren, komplett selbst kreative und ungewöhnliche Lösungen für komplexe Probleme zu finden. Dies macht sie zu wertvollen Mitarbeitern in Berufen, die findige Problemlösung und kritisches Reflektieren/Analysieren erfordern, wie etwa in der Forschung, der Technologie oder der Beratung.
d) Flexibilität: Menschen mit ADHS können sich gedanklich oft besser an Veränderungen anpassen, da sie besonders unter Druck schnell alternative Lösungen entwickeln. Das scheinbar Unlösbare und Verfahrene kommt ihnen zudem motivationsmässig sehr entgegen. Langeweile hingegen ist für sie der seelische Tod. Diese Konstellation ist in einer schnelllebigen, durch Künstliche Intelligenz (KI) geprägten Arbeitswelt von unschätzbarem Wert.
4. Nachteile des divergenten Denkens
a) Wortklaubereien/ausufernde Gespräche: Bei ADHS entsteht oft der Eindruck, die Betroffenen neigten zu Doppelbotschaften, Wortklaubereien oder dem Verdrehen von Tatsachen. Das ist auch oft der Fall, aber sehr selten bewusst manipulativ gemeint, da bei ADHS tatsächlich viele Gedanken auf einmal bewältigt werden müssen, während Reizfilter im Stirnhirn weniger gut funktionieren. Zudem erschwert die oft schwächere Leistung des Arbeitsgedächtnisses die spontane, präzise Erinnerung von Dingen, die zeitlich nicht lange zurück liegen («wo ist mein verdammter Pulli?»).
b) Missverständnisse/Spannungen: Menschen mit ADHS können aufgrund ihrer impulsiv-sprunghaften Denkweise mitunter unbeständig und inkonsistent erscheinen. Das führt häufig dazu, dass Aussenstehende an der Zuverlässigkeit/Kompetenz der ADHS-Betroffenen zweifeln. Dieser Umstand wird von diesen wiederum als sehr belastend empfunden (Zurückweisung, sozialer Ausschluss).
c) Arrogante Aussenwirkung/Konflikte: Werden Gedanken, die nichtlinearen Denkprozessen entspringen, für Aussenstehende nicht stimmig/linear erklärt, führt dies oftmals zu Konflikten. Denn ADHS-Betroffene können häufig ihrerseits nicht nachvollziehen, dass ihre gedanklichen Prozesse für andere nicht schlüssig sind. Durch ihre höhere Impulsivität reagieren sie zudem auch noch «patzig» oder aggressiv («Ist doch klar, dass DAS mit dem und dem in Verbindung steht!» etc.).
d) Logikfehler/Verallgemeinerung: Divergentes Denken kann und wird zu Fehlschlüssen führen, wenn es nicht mit konvergentem - also linearem - Denken einhergeht. Ein Klassiker sind die sogenannten Verschwörungstheorien, bei denen Pizzas, Reptilienmenschen, Kinderpornographie und natürlich die böse Weltelite plötzlich alle im selben Boot sitzen. Menschen, die vielleicht nicht einmal ihr eigenes Zimmer aufräumen, haben dann schnell mal die Lösung für die Armut der dritten Welt gefunden. Oder doch nicht. Denn eben: Sonst wäre wohl auch ihr Zimmer aufgeräumt (eigene Meinung. Zimmer unordentlich. Darum auch keine Instant-Lösungen gegen Welthunger in petto).
5. Fazit
Obwohl ADHS eine Herausforderung im Alltag darstellt, birgt es auch einzigartige Stärken. Das divergente Denken, das bei vielen Menschen mit ADHS stärker ausgeprägt ist, kann sowohl im privaten als auch im beruflichen Bereich von grossem Nutzen sein. Es legt aber ebenso Fallstricke, die sich nur mit Geduld und friedfertiger Kommunikation (Nachfragen, kurz Zusammenfassen etc.) umgehen lassen.
Indem wir die Fähigkeit des divergenten Denkens erkennen und fördern, können wir auch junge Menschen mit ADHS dabei unterstützen, ihre kreativen Talente zu entfalten – und später Erfolge auf diesen Gebieten zu erreichen.
Und sonst können sie wohl immer noch Polarforscher werden. Denn auch Risikofreude und Abenteuerlust liegen den ADHS-lern ganz klar im Blut...