
ADHS und Kampfsport: Zwei Verbündete für das ADHS-Gehirn
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Kampfsport und ADHS: Die Zwei verbindet viel mehr als nur Bewegung. Als Hobby helfen Karate, Kickboxen und Co. ADHS-Kindern wie Erwachsenen psychisch im Alltag.
Kampfsport ist längst kein Nischenhobby mehr. Allein die Schweiz zählt hunderttausende aktive Karate-Mitglieder. Der Boom kommt nicht von ungefähr: Wer regelmässig Kung Fu, Karate, Kickboxen, MMA, Judo etc. trainiert, verbessert nicht nur Ausdauer und Koordination, sondern auch die kognitive Leistungsfähigkeit und die psychische Resilienz/Widerstandsfähigkeit. Kampfsport fördert also die Einheit von Körper und Geist - und stärkt Selbstbewusstsein und Selbstvertrauen. Damit einher gehen bessere Aufmerksamkeit, Impulskontrolle und Emotionsregulation.
Gleichzeitig zeigt sich: Klassische Teamsportarten überfordern viele ADHS-Kinder durch zu lange Wartezeiten oder unklare Abläufe – oft brechen gerade ADHS-Kinder dann frühzeitig ab. Im Kampfsport hingegen folgen Bewegung auf Bewegung, Kommando auf Kommando, Resultat auf Aktion Der kann zum natürlichen Helfer für eine gesunde Neurochemie werden – und zur Bühne, auf der Kinder wie Erwachsene auch ihrer dunklen Seite begegnen dürfen (dazu mehr in Kapitel 5).

Sofortiger Fokus-Kick
Im Dojo beginnt der Fokus nicht mit dem ersten Schlag, sondern mit dem ersten Schritt auf die Matte. Die klare Begrüssung, das rhythmische Aufwärmen, die erste Technik – all das hilft dem Gehirn in den Moment. Für ADHS-Betroffene, deren Aufmerksamkeit oft flattert wie ein Spatz im Wind, ist das ein spürbarer Unterschied, der sofort Wirkung zeigt.
Das lässt sich auch mit Gehirnchemie belegen: Dynamische, koordinierte Bewegungen pushen die Ausschüttung von Dopamin und Noradrenalin – genau jene Gehirn-Botenstoffe, die bei ADHS oft zu knapp sind (weil zu schnell resorbiert/wiederaufgenommen und erst ab einem höheren/anderen Reiz-Schwellenwert im ADHS-Gehirn verfügbar).

Regeln und Gemeinschaft vereint: Halt im System
Was für Aussenstehende nach rigider Disziplin oder grosser Aggression aussieht, ist besonders für ADHS-Kinder ein stabiler Rahmen, in dem sie endlich aufatmen können. Vom ersten Verbeugen bis zum letzten Gruss folgen die Trainings einer klaren Dramaturgie. Jeder Gurt, jede Technik, jede Partnerübung ist eingebettet in ein nachvollziehbares System – und das wirkt.
Wo im Alltag häufig Chaos herrscht, schaffen diese Rituale Orientierung. Das reduziert nicht nur Reizüberflutung, sondern gibt dem Gehirn Sicherheit und Struktur. Besonders heilsam: der sichtbare Fortschritt. Jeder neue Gürtel ist nicht nur ein Symbol – er ist ein neurochemischer Dopamin-Kick. Gelernt, geprüft, gemeistert: Diese Kette stärkt das Selbstvertrauen, das bei ADHS-Kindern oft brüchig ist.
Wichtig auch: Kampfsport ist kein Ego-Trip. Partnerübungen zwingen zur Rücksicht, zur Abstimmung mit dem Gegenüber. Wer zu hart zuschlägt, verliert. Wer nicht zuhört, kommt nicht weiter. Das schult Empathie, Selbstwahrnehmung und soziale Intelligenz.

Mindful Moves: Bewegung inklusive Achtsamkeit
Kampfsport enthält Achtsamkeit – ohne das Wort zu benutzen. In Kata und Formenläufen werden Bewegungsabfolgen wie choreografierte Meditationen geübt. Jede Technik hat ein Timing, jede Bewegung eine Bedeutung. Fehler werden vom Trainer nicht bestraft, sondern in Ruhe korrigiert. Die Folge: Die Gedanken verlangsamen sich, der Kopf wird klar.
Das ist kein Gefühl. Es ist Gefühl UND Fakt – sogar messbar. Studien aus dem Bereich Sportpsychologie belegen: Kampfsport fördert die Fähigkeit zur bewussten Konzentration (sogenannt "vordere Aufmerksamkeit"). Schon Philosophen wie Nietzsche und Kant (tägliche Spaziergänge) machten sich "den Segen der Bewegung" zunutze. "Kampfsport" betrieben sie hingegen eher intellektuell.
Auch Tai-Chi-Elemente, die in einigen Jiu-Jitsu- und Karate-Schulen ergänzend unterrichtet werden, fördern die eigene Fähigkeit der bewussten Inhibition – kurz: die eigene Impulskontrolle. Und über allem liegt der Atem: Die sogenannte Hara-Atmung, tief aus dem Unterbauch, wirkt wie ein innerer Anker. Wer sie beherrscht, hat ein Reset-Werkzeug für stressige Alltagssituationen – nicht nur im Dojo.

Ventil für überschüssige Energie
ADHS ist oft gleichbedeutend mit: zu viel Energie, zu wenig Ventil - besonders bei ADHS-H, der bei Buben dominanten, hyperaktiven Form von ADHS. Beim "Träumer-ADHS" (ADHS-I, früher "ADS") wird die Aktivität nach innen verlagert. Diese Kinder wirken äusserlich ruhig/beherrscht und gleichzeitig abwesend. Innerlich leiden sie aber allzu oft an "Gedankenkarussell" und Nervosität.
Im Kampfsport wird dieser Energieüberschuss nicht gebremst, sondern umgelenkt. Und die Gedanken kommen zur Ruhe. Kicks, Schläge, Sprünge, Reaktionsübungen – das Training saugt den Akku auf eine gute Art leer, bevor er innerlich Unruhe stiftet. Und nach dem Training folgt die grosse Ruhe, auch induziert durch die Ausschüttung von Endorphinen (körpereigenen, morphin-verwandten Substanzen).
Sparring funktioniert dabei wie ein Blitzableiter. Überschüssiges Adrenalin und Cortisol ("Stresshormon") werden gezielt abgebaut – in einem sicheren, kontrollierten Rahmen. Laut Erfahrungsberichten aus renommierten Schulen verbessert sich bei regelmässigem Training sogar die Schlafqualität messbar. Kinder, die vorher stundenlang wach lagen, kommen nach zwei Dojo-Einheiten pro Woche deutlich besser zur Ruhe.
Der Aufwand bleibt überschaubar. Zwei bis drei Einheiten pro Woche à 45 bis 60 Minuten reichen für stabile Effekte.

Schattenarbeit auf der Matte – für das Leben draussen
Der grosse Thurgauer Psychologe C. G. Jung beschrieb den "Schatten" als jenen inneren Anteil und Archetypen, den wir verdrängen – die rohe Kraft, das ungelebte Wollen, die dunkle Energie. Im Alltag wird er unterdrückt, im Kampfsport bewusst gelebt und integriert. Schlagpolster statt Pausenhof, Regelwerk statt Kontrollverlust: Hier darf sich zeigen, was sonst überdeckt wird.
Sparring wird so zur tiefenpsychologischen Bühne. Wer dem eigenen Schatten einmal im Sparring begegnet ist, wer unter Druck ruhig bleibt, wer eigene Grenzen klar spürt – der reagiert im Alltag seltener impulsiv. Das sagen nicht nur Coaches, sondern auch Experten wie die Ausbilder von Ronin Combatives, die den Begriff „Handshake mit dem Schatten“ als festen Bestandteil ihrer Philosophie führen.
Die Integration des Schattens macht stark – nicht aggressiv. Oder aber: Sie macht aggressiv im ursprünglichen Wortsinn von "aggredi" (lat.), das auch "beherztes Anpacken" bedeutet. Die Schattenarbeit mittels Kampfsport schafft also Handlungsspielraum, innere Distanz zu scheinbar übermächtigen Impulsen – und ergo die Fähigkeit, auch in Konflikten ruhig – aber bestimmt – zu bleiben.

Neuroplastizität und Epigenetik
Der spannendste Blick geht nach innen – bis in die Tiefe der Gene. Konkret: Komplexe Ganzkörperbewegungen wie im Kampfsport können sogar epigenetisch wirken. Erste Hinweise deuten darauf hin, dass die Aktivität bestimmter Gene durch regelmässiges Training positiv beeinflusst wird. Oder anders: Einst "schlafende Gene" (der grösste Teil unseres Genpools ist nicht-codierend), werden durch die bewusste Verhaltensänderung aktiviert.
Auch auf struktureller Ebene des Gehirns tut sich einiges. Studien mit Judo-Athleten zeigen positive Effekte in Bezug auf die bewusste Inhibition innerer Impulse, also eine insgesamt verbbesserte Impulskontrolle. Die Kausalkette "Aktion, Rückkoppelung auf das Gehirn, neuronales Wachstum" ist bekannt. Neue Fremdsprachen, Ausland-Aufenthalte, Elternwerden etc. beieinflussen unser Gehirn in klar sichtbarer (unter Mikroskop) Art. Neuronale Verbindungen lösen sich und wachsen anderswo neu zusammen. Ganze neuronale Verbünde gruppieren sich um.

"Kampfsport" ist Friedens-Sport für Körper, Seele & Geist
Kampfsport vereint, was bei ADHS oft zersplittert ist: Konzentration, Impulsivität, Aktivität. Die zahlreichen Martial Arts sind damit Bewegungstherapie, Dopamin-Katalysator, Gemeinschaftsritual und Schattenintegration in einem. Wer seinen Kindern oder sich selbst etwas Gutes tun will, braucht keinen "Druck zum Leistungssport". Nur eine Matte, klare Regeln – und den Mut, sich auf sich selbst einzulassen. Es lohnt sich.
ÜBRIGENS: Im Raum Zürich Thai-Boxen trainieren könnt Ihr bei René (auch draussen, Sommer). Er ist 1987 geboren und spricht DE, FR, EN. Auch ADHS-Betroffener, natürlich (erst mit Mitte 30 diagnostiziert). Vor 8 Jahren hat er für sich selber Muay Thai als Passion und Therapieform entdeckt. Zudem bringt er viel Erfahrung in Personal- und Group Training mit.
Instagram: https://www.instagram.com/rene_aka_2face
