Verwundete Aufmerksamkeit: Der unsichtbare Faden zwischen Trauma und ADHS
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Frühkindlicher oder chronischer Stress, wie etwa traumatische Erfahrungen, spielt auch bei der Entwicklung von ADHS eine Rolle. Denn Traumata können das Gehirn nachhaltig verändern. Dieser Blog beleuchtet die Zusammenhänge und zeigt Handlungsmöglichkeiten.
In einer Welt, in der die Diagnose ADHS immer häufiger gestellt wird, bleibt ein kritisches Element der Kinderpsychologie oft übersehen – das komplexe Trauma. Kinder, die intensive, wiederholte traumatische Ereignisse erlebt haben, können ein Verhalten entwickeln, das symptomatisch für ADHS ist. Hyperaktivität, Impulsivität, Unaufmerksamkeit und emotionale Reaktivität sind nicht nur Anzeichen einer neurobiologischen Störung. Es können auch Schreie um Hilfe von jungen Seelen sein, die von unsichtbaren Wunden geplagt werden.
Was versteht man unter einem «Trauma»?
Trauma bedeutet wörtlich «Wunde, Verletzung oder Schock». Ein traumatisches Ereignis ist ein Ereignis, das die Psyche als komplett überwältigend empfindet. Dazu gehören nicht nur schwere körperliche Verletzungen – wie früher lange angenommen – sondern auch schwere seelische Verletzungen. Diese «Seelenwunden» werden oft ausgelöst durch Erlebnisse, die mit Kontrollverlust oder sogar Lebensgefahr einhergehen.
Die Menschen unterscheiden sich stark darin, was sie als traumatisch empfinden. Es gibt jedoch einige Ereignisse, die so viel Stress auslösen, dass nur wenige Menschen psychisch unbeschadet daraus hervorgehen. Vor allem, wenn ihnen nach dem Ereignis die fürsorgliche Unterstützung fehlt.
Typische Ereignisse, die ein Trauma auslösen können
Zu den möglichen Ereignissen, die traumatisierend sein können, gehören zum Beispiel:
- Naturkatastrophen wie Erdbeben und Überschwemmungen
- Krieg und Konflikt
- Opfer eines Verbrechens werden (z.B. vergewaltigt, überfallen, ausgeraubt oder entführt werden)
- In einen schweren Unfall verwickelt oder Zeuge eines solchen sein
- Durch Arbeit oder ehrenamtliche Tätigkeiten dem Tod, Verletzungen oder Gewalt ausgesetzt sein
- Unerwarteter/gewaltsamer Tod eines geliebten Menschen
- Sehr komplizierte oder gewaltsame Geburt
- Schmerzhafte oder erniedrigende medizinische Eingriffe
- Zwischenmenschliche Gewalt oder Missbrauch
- Ernsthafte Vernachlässigung der Pflege in der Kindheit
- Fehlende oder toxische Verbindung zu Eltern/Erziehungsberechtigten
- Langanhaltende, ungewünschte Trennung von Betreuungspersonen wie Mutter/Vater
Was versteht man unter einem «komplexen Trauma»?
«Komplexes Trauma» beschreibt eine spezielle Art von Trauma, die über ein einmaliges Ereignis hinausgeht. Es kann wiederholt oder anhaltend sein, schwer oder unmöglich zu entkommen, innerhalb einer persönlichen Beziehung auftreten, in der Kindheit beginnen, sodass es die Entwicklung eines Kindes beeinflusst. Zudem kann es von anderen Familienmitgliedern vertuscht, geheim gehalten oder abgestritten werden (etwa Missbrauch). Häufige Ursachen für komplexes Trauma sind Kindesmissbrauch und häusliche Gewalt. Komplexes Trauma tritt jedoch auch bei Menschen auf, die Haft, Folter oder Menschenhandel überlebt haben. Auch das Dasein als Flüchtling oder die langfristige Exposition gegenüber Konflikten können komplexes Trauma verursachen.
Komplexes vs. einfaches Trauma: Der lange Sturm, statt nur der kurze Blitz
Ereignisse, die nur einmal auftreten, haben einen klaren Anfang und ein Ende. Sobald das traumatisierende Ereignis vorüber ist, können Überlebende einen sicheren Ort erreichen, möglicherweise Hilfe suchen und sich erholen. Komplexes Trauma hingegen ist anhaltend oder wiederholt sich häufig, sodass wenig Zeit zur Erholung bleibt. Komplexes Trauma tritt zudem oft im Verborgenen auf – die betroffene Person ist dann nicht in der Lage oder hat Angst, Rat, Fürsorge und Unterstützung zu suchen.
In den meisten Fällen beginnt das Trauma in der Kindheit oder Jugend. Da das Gehirn noch wächst, können anhaltende Traumata Veränderungen in der Gehirnstruktur und -funktion verursachen, die die zukünftige Entwicklung beeinträchtigen. Trauma-Überlebenden fällt es deutlich schwerer, mit dem täglichen Leben und Beziehungen zurechtzukommen. Sie haben zum Beispiel chronische Schwierigkeiten, starke Emotionen auszuhalten, zu benennen und zu integrieren, sie kämpfen mit einer kurzen Konzentrations-Spanne und/oder einem unzuverlässigeren Gedächtnis. Auch die Aufrechterhaltung stabiler und sicherer Beziehungen ist für sie eher eine laute Baustelle oder ein Minenfeld als eine grosse grüne Wiese. Denn traumatisierte Menschen agieren selten aus dem Gefühl der inneren Sicherheit und Selbstliebe. Sie werden stattdessen von Unsicherheit und Nervosität geplagt – und sie haben destruktive Glaubenssätze verinnerlicht, wie z.B. «ich bin nicht liebenswert» oder «was ich auch mache, es ist niemals genug».
Wie hängen ADHS und Trauma zusammen?
Stress in der frühen Kindheit oder chronischer Stress, der auch traumatische Erfahrungen einschliesst, ist ein Faktor bei der Entstehung von ADHS. Kinder, die Traumata in der frühen Kindheit erleiden – sei es durch Misshandlung, sexuellen Missbrauch, Trennung von Bezugspersonen, aggressives Verhalten der Eltern oder Erfahrungen im Krieg – neigen eher dazu, Symptome von ADHS zu entwickeln (also Unaufmerksamkeit, Impulsivität, Hyperaktivität/Unruhe). Andererseits belegen Studien, dass Personen mit ADHS signifikant mehr traumatische Ereignisse erleben, insbesondere in Beziehungen. 20 bis 50 Prozent aller Kinder, die ein frühkindliches Trauma erleben, entwickeln auch klinische ADHS-Symptome.
Obwohl es bisher nicht eindeutig belegt ist, dass Traumata das Risiko für ADHS (kausal) durch Veränderungen im dopaminergen System erhöhen, existieren überzeugende Hinweise dafür, dass sowohl frühkindliche als auch in der Jugend erlittene Traumata dauerhafte Veränderungen im dopaminergen System des Gehirns bewirken können. Dopamin ist der Neurotransmitter (Botenstoff), dessen Pegel bei ADHS mittels Medikamenten (Ritalin, Amphetamine) künstlich erhöht wird.
Was können Sie tun, wenn Sie bei Ihrem Kind ein Trauma vermuten?
Vertrauen Sie auf Ihre Instinkte. Wenn Sie das Gefühl haben, dass die Diagnose ADHS bei Ihrem Kind «nicht ganz stimmt», stellen Sie sicher, dass Sie Ihre Bedenken beim Psychologen/Psychiater deponieren. Sprechen Sie über die Ereignisse (siehe oben), die ein komplexes Trauma ausgelöst haben könnten. Aber ob ADHS oder Trauma, geben Sie sich nach einer Diagnose nicht bloss mit dem medikamentösen Weg zufrieden. Selbst, wenn Ihr Kind keine oder minimale Nebenwirkungen bei seiner Medikation erfährt, ist eine Sache nahezu gewiss: Die Wirkung des Medikaments wird mit der Zeit sukzessive abnehmen. Bis dahin sollte Ihr Kind – oder Teenager – auch gelernt haben, schwierigen Situationen zu begegnen, ohne dafür die Dosis immer noch stärker steigern zu müssen (allenfalls bis zur medizinischen Grenze, wo Nebenwirkungen sich dann deutlich bemerkbar machen).
Was benötigen Kinder mit ADHS und Hintergrund von komplexem Trauma?
ADHS-Betroffene und traumatisierte Menschen sind mit ihrer Psyche/Seele an Orten gewesen, die viele andere Menschen niemals kennenlernen. Manche gehen daraus sogar gestärkt hervor, andere wiederum werden in ihrer Entfaltung behindert und/oder begegnen ihrem Alltag mit einem immer vorhandenen Gefühl der Schwere, Ängstlichkeit, Unsicherheit oder Trauer.
Folgende Dinge helfen bei ADHS und komplexem Trauma:
- Beständigkeit, Vorhersehbarkeit und Routine im Leben - sowohl zu Hause als auch in der Schule
- Hilfe beim Aufbau von dauerhaften, sicheren und vorhersehbaren Beziehungen
- Wichtige, einfühlsame Bezugspersonen, wo man sich wohlfühlt, verstanden und wertgeschätzt wird
- Ein Gefühl der Kontrolle, indem eher begrenzte Auswahlmöglichkeiten geboten werden
- Strategien, um die eigene Widerstandsfähigkeit (Resilienz) zu fördern (Meditation/Achtsamkeit, konsequente Regeneration, regelmässige Bewegung/Sport, Gruppentreffen, ausgewogene Ernährung, Psychotherapie/Verhaltenstherapie/Trauma-Coaching)
Denken Sie daran, bei Ihrem Kind – oder bei sich selbst: Ein Trauma ist nicht immer alleine zu bewältigen. Wenn komplexes Trauma das tägliche Leben und das persönliche Wohlbefinden über einen längeren Zeitraum hinweg negativ beeinflusst, ist es ratsam und nötig, Unterstützung zu suchen. Innerhalb der Traumatherapie existieren diverse Ansätze und Techniken, die dabei helfen können, Traumata in die eigene Psyche zu integrieren – und auf einem neuen Boden das Feld des Lebens zu bepflanzen. Der Sturm mag lange gewesen sein. Das Feuer verzehrend. Doch unser Leben wäre nicht unser Leben, wenn es sich nicht immer wieder neu erfinden könnte. Entstanden auf einer kleinen Kugel in der Leere des eiskalten Raums (minus 273 Grad Celsius). Umgeben von Feuer spuckenden Vulkanen. Eine pulsierende Mitte, die sich selber wärmt. 35,7 bis 37,3 Grad Celsius. Die Temperatur unseres verletzlichen, wie auch wunderbaren und wandlungsfähigen Körpers.