
Potenzial statt Problem: So entfalten ADHS-Betroffene all ihre Stärken
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Leidenschaftlich, kreativ, flink im Denken – und oft am falschen Ort: Warum viele Arbeitsplätze für ADHSler nicht funktionieren. Und was es braucht, damit Neurodiversität für alle Beteiligten zur Joker- bzw. Ass-Karte wird.
PODCAST DAZU: Neurodiversität als Zukunftsvorteil
Sie denken schnell. Fühlen intensiv. Und erkennen Muster, wo andere nur Chaos sehen. Und doch scheitern sie – nicht selten – an starren To-Do-Listen, Grossraumbüros und morgendlichen Team-Calls: Erwachsene mit ADHS sind häufig sehr begabt/leidenschaftlich, verantwortungsbewusst und voller Tatendrang. Aber sie passen auch ebenso oft nicht in die engen Schablonen, die viele Arbeitsplätze heute noch darstellen.
Dieser Blog zeigt, was sich ändern müsste, damit ADHS-Betroffene nicht zu Aussteiger:innen werden, sondern zu Gamechangern und Innovatorinnen

Was die Forschung sagt: Die Neurodiversitätswende
ADHS war lange ein Defizitlabel. Doch die letzten zehn Jahre zeigen: Die Stärken dieser Menschen sind real – und marktrelevant. Studien von Elite-Universitäten belegen, dass neurodiverse Teams kreativer, schneller und oft auch resilienter sind. Vor allem, wenn die Rahmenbedingungen stimmen.
Die Gründe sind verschiedener Natur, lassen sich aber auf einige klare Nenner bringen: ADHS, Autismus und Asperger-Autismus gehen mit messbar ANDEREM Denken/Fühlen einher, das weniger linear ist (divergent thinking, Synästhesie), mehr äussere Inputs einbezieht und quasi ständig auf Assoziationen zurückgreift bzw. neue solche Verknüpfungen in "Real Time" generiert. Drei Kernkomoetenzen, die genau in der VUCA-Welt gefragt sind, in der wir - spätestens seit Einzug der Künstlichen Intelligenz (KI) - heute leben.
A-ufmerksamkeits D-efizit und H-yperaktivitäts-S-yndrom? Falsch. Und als Etikett effektiv schädlich. Die sogenannt "Hintere Aufmerksamkeit" ist bei ADHS konstant HÖHER als bei Neurotypischen. Und: Das ist die ältere, dem Stirnhirn vorgelagerte Aufmerksamkeit, die früher das Überleben (in der Gruppe) garantiert hat.
Die "vordere Aufmerksamkeit" (Stirnhirn) - also bewusste und gerichtete Konzentration ("das da will ich nun tun!") - hat dafür eine höhere Aktivierungs-Schwelle (Threshold). Die Kriterien sind:
- Ist es von hohem/vitalem Interesse für mich?
- Ist es sehr dringend?
- Ist es gefährlich oder sehr chancenreich?
Hyperaktivität? In Bezug worauf? Höhere Energieniveaus (ADHS-HI) bzw. aktiveres "Kopfkino" (ADHS-I) >> JA. Die Frage ist, wo genau das am besten gewinnbringend eingesetzt werden kann. Mögliche Antworten: Spitzensport, Rettungs-Sanität, Pflegeberufe, Firmenleitung - bzw. Kunst/Kreatives Schaffen, Analyse/Synthese, Kommunikation/Marketing usw.

Was braucht es denn, damit sich Neurodiverse optimal einbringen können?
Kurz: Flexible Arbeitszeiten, reizarme Umgebungen und eine klare/direkte Kommunikation wirken sich besonders positiv aus. Auch die Möglichkeit, zwischen Homeoffice und Büro frei zu wechseln, senkt laut mehreren Fallstudien nicht nur Stress, sondern erhöht die Produktivität signifikant – sofern das Team mitzieht.
Gleichzeitig zeigt die Forschung: Zu viel Freiheit kann ebenso schaden wie zu wenig. Die beste Arbeitsumgebung für ADHS-Talente ist keine Anarchie, sondern eine gut austarierte Mischung aus Struktur und Selbstbestimmung (> Agile Work). Wer sie überfordert, verliert sie. Wer sie kontrolliert, auch.
Geben Sie einem ADHSler ein Projektziel und eine Deadline. Klare Qualitätsvorgaben und kompetente Ansprechpersonen. Er wird vermutlich vorher fertig sein und die Vorgaben sogar übertreffen - weil er einem inneren Missions-Gedanken und Kompass folgt. Voraussetzung ist, dass es "der richtige Mann/die richtige Frau" für den Job ist.
DAS ist bei Neurotypischen ja nicht anders - bei ADHS aber absolut essenziell. Denn nochmals: Die Aktivierungsschwelle für den gerichteten Fokus ist höher (s.oben), Einmal aktiviert, gleicht diese Konzentration aber einem Laserstrahl (Hyperfokus).

Wenn Leidenschaft auf Bürokratie trifft: Das Problem klassischer Arbeitsmodelle
Viele Arbeitsplätze sind für Menschen mit linearer Aufmerksamkeit gebaut. Also für diejenigen, die morgens gerne Routine-Aufgaben abarbeiten, mittags mit voller Energie im Meeting sitzen und abends ihre To-dos abhaken.
Für viele mit ADHS sieht der Arbeitsalltag anders aus:
- Die Morgenroutine ist ein Minenfeld (Bsp. Mails checken > v.allem Spam löschen)
- Multitasking killt die Konzentration
- Deadline-Nähe ist der einzige Motivator
- Meetings ohne klaren Zweck führen direkt in die innere Kündigung
- Unklare Kommunikationswege erzeugen Chaos im Kopf
Wer das ignoriert, verliert Potenzial. Wer es versteht, gewinnt.
Klassische Arbeitssysteme sind häufig nicht für schnelles, non-lineares Denken gebaut – sondern für Wiederholung, Effizienz und Konformität. Genau dort hakt es.

Was wirklich funktioniert: Best-Practice aus der Wirtschaft
- Deep-Work-Tage für kreative ADHS-Köpfe: Ein Berliner Tech-Unternehmen führte bewusst Deep-Work-Tage ohne Meetings ein. Mitarbeitende mit ADHS berichteten von mehr Fokus, weniger Reizüberflutung und höherer Zufriedenheit. Die Produktivität stieg – allerdings nur dort, wo klare Ziele und Feedbackzyklen blieben. Wichtig war: Die Freiheit kam mit Verantwortung, aber nicht mit Mikromanagement-Kontrolle.
- In einem Sozialprojekt testete man flexible Rollenverteilungen, selbstgewählte Pausenzeiten und individuell gestaltete Arbeitsplätze. Das Ergebnis: weniger Krankmeldungen, mehr kreative Ideen – aber auch erhöhter Koordinationsbedarf. Die Teams lernten exakt dadurch, mit Asynchronität umzugehen. Und sie profitierten langfristig davon.
- Peer-Coaching statt Druck von oben: Ein IT-Unternehmen setzte auf Buddy-Systeme für ADHS-Talente. Einmal pro Woche tauschten sich Tandems über Herausforderungen und Fortschritte aus. Das führte nicht nur zu weniger Fehlern, sondern auch zu mehr emotionaler Stabilität im Arbeitsalltag. Besonders hilfreich: Die Peers waren selbst neurodivers oder geschult im Umgang damit.
Der goldene Mittelweg: Struktur geben, aber nicht einengen
Was all diese Ansätze eint? Sie versuchen nicht, ADHS-Menschen "einzupassen". Sondern gestalten den Rahmen um sie herum so, dass ihre Stärken wirksam werden können. Allzu oft ein Einmal-Mehraufwand für einen ANDAUERNDEN Mehrertrag.
Erfolgreiche Arbeitsplätze bieten:
- Flexible Zeitmodelle, ohne komplett auf Tagesstrukturen zu verzichten.
- Klare Ziele, aber mit Spielraum beim Wie.
- Rückzugsmöglichkeiten, um Reizoffenheit zu reduzieren.
- Digitale Tools, die bei Planung und Fokus unterstützen.
- Mentoring und Coaching, statt klassischer Top-down-Kontrolle.
Gleichzeitig braucht es Sicherheit: feste Bezugspersonen, planbare Deadlines, transparente Kommunikation. Keine „Kuschelecke für ADHS“, sondern eine klare Antwort auf eine komplexe Realität. Die agilen Spezialisten genau dort einsetzen, wo es ohne agile Spezialisten nicht weitergeht.
Es geht also um eine Arbeitskultur, die Unterschiede nicht nur passiv toleriert, sondern proaktiv und gewinnbringend NUTZT.