Die Grundbedürfnisse des ADHS-Gehirns
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Ständig aktiv, immer am Nachdenken, am Tun, permanent am Reagieren, viele Projekte starten und zwischen ihnen wechseln, unaufhörlich neuen Ideen nachjagen und Informationen sammeln - oder neue Vorhaben initiieren.Niemals zufrieden mit weniger, mit langsamer oder einfacher.
Klingt das vertraut?
Warum setzen Sie sich ständig diesem Stress aus?
Warum verfahren Sie immer wieder so? Sie wissen doch, dass es Ihnen Unbehagen bereitet, dass Sie so Ihre Ziele ggf. nicht erreichen, Unordnung verbreiten und sich selbst vom Erfolg abhalten.
Das ist keine Kritik, sondern eine aufrichtige Frage: Verstehen Sie, warum Sie sich immer wieder so verhalten, obwohl Sie eigentlich "besser" wissen und sich weniger Stress wünschen?
Ich kann Ihnen die Antwort geben, aber dazu später mehr.
Zuerst: Sie sind weder ein Versager noch fehlt es Ihnen an "Selbstdisziplin". Das Problem lässt sich nicht durch "mehr Anstrengung" oder "mehr Zusammenreissen" lösen. Solche Vorwürfe und Versuche, mehr Ruhe und Zielerreichung zu finden, sind bei Menschen mit ADHS üblich. Und sie tun ihnen entsprechend weh.
Aber so funktioniert es nicht.
Es geht nicht um "mehr Anstrengung".
Es geht darum, sich selbst zu verstehen. Nur dann können Lösungen gefunden werden, die wirklich funktionieren – auch langfristig.
Was Ihr Gehirn Ihnen damit sagen will
Das eigene Verhalten zu ändern, ist eine der schwierigsten Herausforderungen. Es reicht nicht aus, sich einfach vorzunehmen, etwas anders zu machen.
Sie kennen das bestimmt: Sie nehmen sich vor, eine Sache nach der anderen zu erledigen - und es klappt vielleicht eine Stunde lang. Dann kommt eine E-Mail oder eine Socke liegt auf dem Boden, und – zack – ... Sie wissen, was ich meine. Ab vom Ziel, zurück in den Stressmodus.
Man könnte das negativ betrachten: typische ADHS-Ablenkbarkeit und Impulsivität. EIN DEFIZIT.
Aber es gibt eine andere Perspektive.
Hören wir mal zu, was Ihr Gehirn Ihnen sagen möchte:
...ICH BRAUCHE STIMULATION!!!...
Ein legitimes Bedürfnis anstelle eines Defizits.
Doch was bedeutet "ich brauche Stimulation"?
Ohne tief in die Neurobiologie einzutauchen, ist Folgendes wichtig zu wissen: Wenn das ADHS-Gehirn zu wenig Stimulation hat, schaltet es schlichtweg ab - bzw. in den Standby-Modus. Wie ein Bildschirmschoner, der aktiviert wird, wenn keine Eingabe erfolgt. Beim PC dauert das je nach Einstellung 30 Minuten oder länger, beim ADHS-Gehirn kann der Bildschirmschoner schon nach ca. 30 Sekunden oder weniger aktiv werden, wenn keine "Eingabe" erfolgt.
Damit ein ADHS-Gehirn gut funktioniert, braucht es eine bestimmte Menge an Stimulation - nennen wir sie "Aktivierung" oder "Anregung". Es muss also immer etwas los sein, damit sich das willentlich steuerbare Denkerhirn (bzw. der präfrontale Cortex) nicht in die Pause verabschiedet.
Anders sieht es notabene mit der sogenannt "hinteren Aufmerksamkeit" aus, die von den unbewussten Gehirnteilen gesteuert wird. Dieser "Überlebensmodus" (Umfeld auf Gefahren scannen, verdächtige Geräusche erkennen etc.) ist bei ADHS nachweislich ÜBERAKTIV. Und: DER lässt sich nicht austricksen, weil er einst überlebenswichtig war.
ADHSler, die falsche Charismatiker auf Anhieb erkennen, Geld am Boden finden, tote Tiere am Wegrand, kleinste Fehler in einem scheinbar funktionierenden System. Deren Hand nach hinten schiesst, wenn ein Kinderwagen in ihrem peripheren Sichtfeld umfällt - oder eine Faust nach vorne, wenn es nötig ist. Die unter existenziellem Stress Höchstleistungen erbringen, bei grosser Gefahr gespenstisch ruhig werden etc.: Keine Ausnahme, sondern die Regel.
Es ist ein anders verdrahtetes Gehirn. Vielleicht, so diverse Theorien, auch eine genetische Normvariante, die gehirnmässig eher "Jäger" als "Bauern&Sammler" hervorbringt.
Wenn man das verstanden hat, wird aus dem frustrierenden Defizit ein legitimes und handhabbares Bedürfnis – eben das Bedürfnis nach Stimulation.
Wie sich das Bedürfnis nach Stimulation im Alltag zeigt
Hier einige typische Verhaltensweisen, die Sie wahrscheinlich gut von sich kennen und mit denen Sie – oft unbewusst – Ihrem Gehirn das Bedürfnis nach Stimulation erfüllen.
Zuerst einmal: Es ist nicht nervös oder schlimm, dem Gehirn dieses Bedürfnis zu erfüllen – im Gegenteil, es ist für Ihre Gesundheit und Zufriedenheit nötig. Ihr Gehirn ist nun einmal so, wie es ist - und das sollte akzeptiert und wertgeschätzt werden. Wichtig ist nur, dass es nicht ständig, also nicht den ganzen Tag, befriedigt wird.
Es wäre doch ideal, wenn Sie das bewusst steuern könnten, statt immer nur impulsiv den Bedürfnissen des Gehirns nachzugeben.
Die verschiedenen Gesichter des Stimulationbedarfs
- Neugier: Immer auf der Suche nach neuen Themen, Informationen sammeln, Fragen stellen, dazulernen.
- Risikofreude: Lieber etwas Neues ausprobieren als das Bekannte wiederholen.
- Gelegenheiten suchen: Schauen, was noch möglich ist, nichts verpassen wollen.
- Neues beginnen: Neue Aufgaben oder Projekte starten, neue Rollen übernehmen.
- Ortswechsel: In Bewegung sein, den Platz wechseln.
- Bewegung: Umhergehen, zum Kühlschrank oder auf die Toilette gehen, schnell etwas einkaufen.
- Abwechslung in Tätigkeiten: Nicht länger als 30 Minuten bei einer Sache bleiben, zwischendurch auf Facebook gehen oder jemanden anrufen.
- Multitasking: E-Mails lesen, gleichzeitig Facebook checken und den Schreibtisch aufräumen.
- Ständige Beschäftigung: Nahtlos durch den Tag, von einer Aufgabe zur nächsten.
- Hyperfokus: Tiefes Eintauchen in eine Tätigkeit, maximale Anregung fürs Gehirn.
- Aufschieben bis zum letzten Moment: Zeitdruck stimuliert das Gehirn (kann aber auch blockieren).
- Ideen sammeln: "Das könnte man ja auch noch machen..."
- Informationen sammeln: Papierstapel, Ordner, Dateien auf dem Desktop.
- Innovation: Dinge anders machen als bisher, Abwechslung suchen.
- Komplexität: Bloss nicht die einfache Variante wählen, das wäre zu langweilig.
- Routine vermeiden: Papierkram, Steuern, Aufräumen – das alles möglichst umgehen.
- Pausen vermeiden: Ruhe bedeutet Langeweile, dann lieber Nachrichten lesen oder auf YouTube vorbeischauen.
- Mehrere Projekte gleichzeitig: Möglichst immer mehrere Eisen im Feuer haben.
Diese Liste ist nicht vollständig...
Die Vorteile erkennen
Das Gute daran: Ihr stimulationssuchendes Gehirn lenkt Sie nicht nur ab und bringt Sie durcheinander, es hat auch seine Vorteile!
Gerade Unternehmer profitieren in vielerlei Hinsicht von so einem umtriebigen Gehirn.
Bekanntlich gibt es unter Unternehmern einen hohen Anteil solcher umtriebigen Gehirne – und der dazugehörigen Menschen. Viele ADHS-Betroffene machen sich selbstständig und gründen ihr eigenes Business. Zum Beispiel auch die Multimilliardäre Bill Gates oder Richard Branson.
Für eine erfolgreiche Selbstständigkeit und Unternehmensentwicklung sind Ideen, Innovationen, Lust auf Neues, kreatives Denken, Risikofreude und Einsatzbereitschaft unerlässlich.
Ein stimulationssuchendes Gehirn hat also auch positive Seiten. Man muss nur lernen, damit umzugehen und das eigene Verhalten zu managen. Genau das geschieht beispielsweise im Coaching.
Und jetzt?
Was machen Sie jetzt mit diesem Wissen und dieser neuen Sichtweise?
Lassen Sie das erst einmal auf sich wirken, Sie müssen nicht sofort etwas "tun". Ihr stimulationssuchendes Gehirn allerdings schon :-D
Ein guter erster Schritt wäre, Ihre Sichtweise auf Ihr Verhalten zu ändern und sich nicht mehr für die oben genannten Verhaltensweisen zu verurteilen, sondern sie als Bedürfnisse Ihres Gehirns zu betrachten. Das fördert Versöhnung und Selbstakzeptanz.
Im Coaching ist das Verstehen des eigenen Gehirns und der eigenen Verhaltensmuster ein entscheidender Schritt für positive Entwicklungen und Veränderungen. So beginnt es. Anschliessend geht es darum, die positiven Aspekte Ihres Gehirns wertzuschätzen, zu nutzen und für die problematischen Aspekte passende Lösungen sowie Umgangsweisen zu finden.