Freestyle Jazz: So denkt das Gehirn von Menschen mit ADHS
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Auffällig und laut – oder unbeholfen und abwesend. So kann sich ADHS gegen aussen zeigen. Doch dahinter steckt sehr viel mehr. Lernen Sie den «fahrigen Dirigenten» im Kopf von ADHS-Betroffenen kennen.
Der Wildfang und der Hans-Guck-in-die-Luft: Das sind die zwei wohl bekanntesten Bilder, wenn man an Kinder und Erwachsene mit ADHS denkt. «ADHS-HI» ist die medizinische Bezeichnung für hyperaktive ADHSler, «ADHS-I» jene für die Tagträumer (hiess früher «ADS»). Doch bei ADHS geht es nicht nur um Hyperaktivität oder Unaufmerksamkeit. Das Syndrom ist vielmehr eng mit den «Exekutivfunktionen» des Stirnhirns verbunden. Diese sind, zusammengenommen, so etwas wie der «innere Dirigent» oder «Hausmeister» in unserem Kopf.
Im Stirnhirn: Vier Schaltkreise, die sehr vieles bewegen
Der präfrontale Kortex, also das Stirnhirn, spielt eine zentrale Rolle für die exekutiven Funktionen. Innerhalb dieses Bereichs wurden vier primäre Schaltkreise identifiziert, die eine entscheidende Rolle beim Verständnis von ADHS spielen:
Der "Was"-Schaltkreis: Hier dreht sich alles um das Arbeitsgedächtnis. Er ist so etwas wie der Notizblock unseres Gehirns.
Beispiel: Erinnern Sie sich an eine Einkaufsliste oder Details aus einer Besprechung, ohne Notizen.
Der "Wann"-Schaltkreis: Die interne Uhr des Gehirns.
Beispiel: Wissen, wann der beste Zeitpunkt ist, um den Chef um eine Gehaltserhöhung zu bitten oder den richtigen Moment für ein schwieriges Gespräch finden.
Der "Warum"-Schaltkreis: Er ist mit unseren Gefühlen verbunden.
Beispiel: Die Wahl eines Films passend zur Stimmung oder die Entscheidung, bestimmte Themen bei einem sensiblen Freund nicht anzusprechen.
Der "Wer"-Schaltkreis: Der Kreis der Selbstwahrnehmung.
Beispiel: Erkennen, wann man gestresst ist, und Massnahmen ergreifen, um sich zu entspannen. Oder verstehen, wann man die Ursache eines Konflikts ist – und Verantwortung übernehmen.
Konkrete Aufgaben der Exekutivfunktionen
Folgende Arbeiten werden jeden Tag aufs Neue im Stirnhirn erledigt, in einem hochkomplexen Zusammenspiel von ca. 86 Milliarden Nervenzellen (Vergleich: Unsere Milchstrasse hat 100-400 Mrd. Sterne).
Aufgaben priorisieren: Entscheiden, was dringend ist und was warten kann.
Beispiel: Wir entscheiden uns dafür, einen Arbeitsbericht zu beenden, anstatt eine Fernsehsendung anzuschauen. Oder die Entscheidung, Rechnungen zu bezahlen, bevor wir ein neues Smartphone kaufen.
Zeitmanagement: Den Aufgaben eine angemessene Zeit zuordnen und sicherstellen, dass sie auch erledigt werden.
Beispiel: Ein Projekt in kleinere Aufgaben aufteilen und für jede Aufgabe eine Frist setzen. Oder sich bestimmte Zeiten am Tag für Entspannung und Selbstfürsorge reservieren.
Entscheidungen treffen: Optionen abwägen und dann in Ruhe die beste Vorgehensweise wählen.
Beispiel: Die Entscheidung, ob man ein neues Jobangebot annehmen oder in der aktuellen Position bleiben soll. Oder die Wahl zwischen zwei Urlaubszielen, je nach Budget und Interessen.
ADHS: Beeinträchtigung der exekutiven Funktionen
ADHS ist eng mit der Funktion des Neurotransmitters Dopamin verbunden. Dopamin ist ein zentraler Neurotransmitter im Gehirn, der eine Vielzahl von Prozessen beeinflusst, einschliesslich Stimmung, Verhalten und kognitive Funktionen. Dopamin spielt auch eine Rolle bei der Regulation der Durchblutung des Gehirns sowie anderer Prozesse, die für die korrekte Arbeit der exekutiven Funktionen im Gehirn entscheidend sind.
Das Dopamin-Ungleichgewicht bei ADHS beeinträchtigt die Fähigkeit des Gehirns, exekutive Funktionen effektiv zu steuern. Dies führt dazu, dass dieser «innere Dirigent» fahrig und unsicher wird, was das Planen, Organisieren und Durchführen von Aufgaben erschwert. Dinge werden z.B. nur überlegt und erzählt, aber nicht angepackt, begonnene Aufgaben werden nach der Hälfte fallen gelassen, Routinen gehen vergessen, das Zeitgefühl geht verloren, Gegenstände werden dauernd verlegt/gesucht – und so manches mehr.
Die Auswirkungen bei Kindern: Ein genauer Blick
Priorisierung von Aufgaben: Ein Kind mit ADHS kann sich nur schwer entscheiden, mit welcher Hausaufgabe es beginnen soll. Es entscheidet sich fast immer für die Aufgabe, die ihm am meisten Spass macht, statt für die dringendste. So kann es zum Beispiel ein Bild für den Kunstunterricht ausmalen, bevor es die am nächsten Tag fällige Matheaufgabe erledigt. Einwand: "Das geht uns allen so". Berechtigt, aber nicht in DEM Ausmass. "Langweilige" Aufgaben sind für ADHS-Kinder eine psychische Qual, wenn sie nicht sogar körperlich leiden (innere Hitze, schwitzen, stetig zunehmende Nervosität).
Zeitmanagement: Kinder mit ADHS können leicht und komplett den Überblick über die Zeit verlieren. Aus einer 10-minütigen Pause, in der sie mit Spielzeug spielen, kann eine Stunde werden, so dass sie weniger Zeit für ihre Hausaufgaben oder Hausarbeiten haben. Eine Mutter könnte ihr Kind zum Beispiel bitten, sich in 10 Minuten bettfertig zu machen, aber das Kind vertieft sich in sein Spiel und vergisst die Bitte, was zu einer Verzögerung der Schlafenszeit führt – ebenso wie zu ständigen Streitigkeiten.
Ungeduld: In der Schule ist es öfter so, dass das ADHS-Kind mit Antworten herausplatzt, ohne zu warten, bis es an der Reihe ist – was zu Frust bei den Lehrpersonen führt. Oder das Kind hat grösste Mühe damit, Aufgaben zu Ende zu bringen, die geduldiges Dranbleiben erfordern – wie zum Beispiel ein Matheblatt mit 20 sehr ähnlichen Rechnungen.
Entscheidungsfindung: Einfache Entscheidungen können überwältigend werden. Ein Kind verbringt vielleicht zu viel Zeit damit, zu entscheiden, welches Müsli es morgens essen oder welches T-Shirt es anziehen soll – was die morgendliche Routine langwierig und stressig macht. Dopamin ist DAS "Entscheidungs-Molekül", was man auch schön an Menschen sieht, die einen Überschuss davon im Gehirn haben (nach Konsum von Alkohol od. Drogen etwa. "Das werde ich alles noch morgen tun", "Du bist wunderschön, ich will dich küssen!", "Ich kann PRIMA mit dem Auto heimfahren" etc.).
Emotionale Regulation: Kinder mit ADHS zeigen eher oft als selten heftige emotionale Reaktionen. Eine kleine Enttäuschung, wie z. B. ein verregneter Spieltag, dürfte rasch einmal zu destruktiven Gefühlsausbrüchen führen. Umgekehrt kann die Aufregung bei einer Geburtstagsfeier so überwältigend werden, dass sie zu Überreizung und zu Tränen führt. ADHSler allgemein FÜHLEN meist in einer enormen Tiefe, da sie nicht nur Gedanken gerne/schnell vernetzen, sondern auch Emotionen.
Selbstmotivation: Ohne unmittelbare Belohnungen fällt es diesen Kindern möglicherweise schwer, nötige Aufgaben wie "Ämtli" zu erledigen. Sie brauchen zum Beispiel ständige Ermutigung und kleine Aufmerksamkeiten, um ein einwöchiges Projekt abzuschliessen – während andere Kinder dieses mit der Aussicht auf eine Note in der Ferne viel öfter diszipliniert abschliessen können.
Planung und Problemlösung: Ein Kind mit ADHS hat möglicherweise Schwierigkeiten mit mehrstufigen Aufgaben. Wenn es z. B. gebeten wird, sein Zimmer aufzuräumen, kann es damit überfordert sein und nicht wissen, wo es anfangen soll (Priorisierung). Das führt oft dazu, dass diese Kinder die Aufgabe ganz vermeiden oder mehrere Teilaufgaben beginnen, ohne eine davon abzuschliessen.
Schlussfolgerung
Das Verständnis der Beziehung zwischen ADHS und den Exekutiv-Funktionen bietet wertvolle Einblicke in die Herausforderungen/Schwierigkeiten, denen ADHS-Betroffene täglich gegenüberstehen. Für Eltern ist dieses Verständnis der erste wichtige Schritt, um die richtige, liebende Unterstützung anzubieten.
Wenn Sie erkennen, dass Ihr Kind nicht einfach nur "schwierig" oder "faul" ist, sondern wirklich mit den Aufgaben kämpft, die für neurotypische Kinder viel einfacher zu bewältigen sind, haben Sie mehr Einfühlungsvermögen und können wirksame Strategien entwickeln, um Ihr Kind im Alltag zu unterstützen. Genau damit ebnen Sie auch den Weg, damit es als erwachsener Mensch später – trotz, mit oder sogar wegen ADHS (diverse Stärken!) – ein erfülltes Leben führen kann.