Die dunkle Ecke: Schattenseiten der ADHS-Symptome
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Gewiss, ADHSler sind oft kreativ, humorvoll, flexibel. Doch die typischen ADHS-Symptome ziehen leider auch Verhaltensweisen nach sich, die zu Selbstsabotage und Ausgrenzung führen können. Eine Übersicht im Film-Noir-Stil.
Auf den ersten Blick scheint alles sehr durchschaubar: Menschen mit ADHS fallen in erster Linie durch ihre Hyperaktivität (ADHS-H) oder ihre innere Unruhe (ADHS-I) auf, sie sind auffallend impulsiv und kämpfen bei Routinetätigkeiten mit Aufmerksamkeitsproblemen.
Es gibt jedoch einige weniger offensichtliche Anzeichen für ADHS, von denen selbst diejenigen, die eine Diagnose haben, nichts wissen. Diese Symptome sind oft «gut getarnt» hinter den drei Hauptsymptomen:
«Was sollen wir tun, zum Geier nochmal?» (Entscheidungsblockade)
Personen, die an ADHS leiden, können in Situationen, in denen rasche Entscheidungen oder der Umgang mit umfangreichen Informationen gefordert sind, manchmal in einen Zustand der totalen Entscheidungsunfähigkeit geraten.
Diese Entscheidungsfindungsprobleme scheinen häufiger bei ADHS-I aufzutreten. Hohe Noradrenalinspiegel blockieren den präfrontalen Kortex (Stirnhirn). Diese Blockade führt zu besagten Schwierigkeiten, da der PFC für die Abwägung von Optionen zentral ist.
Solche Denkblockaden können auch Symptome von starkem Stress sein. Besonders schlimm wird die Situation bei «emotionalen Erdbeben» wie etwa Trennung/Liebeskummer. Rationales Denken tritt dann komplett in den Hintergrund und Tätigkeiten wie Büroarbeiten werden zur Nonstop-Tortur.
«Das ist ja wirklich kaum zum Aushalten!» (Hypersensibilität HS)
Menschen mit ADHS sind oft überempfindlich, entweder emotional oder körperlich. Wenn Sie ADHS haben, reagieren Sie zum Beispiel äusserst verletzt auf unsachliche Kritik. Diese wird als komplett entwertend gesehen, ggf. wird stark an der Liebe des Partners/der Partnerin gezweifelt etc.
ADHS-Kinder fallen oft dadurch auf, dass bei ihren Kleidern «alles stimmen muss». Hier drückt wieder der Schuh, der Rollkragenpullover juckt unerträglich und wird wütend in die Ecke geworfen, die Unterhosen scheinen Nähte zu habe, die einschneiden und wundscheuern.
Auch hier ist das Stirnhirn wichtig: Zu wenig Dopamin (Neurotransmitter) dort und zu viel davon in den alten Hirnregionen (limbisches System) führt schnell einmal zum «steinzeitlichen Kurzschluss». Die Optionen sind dann oft «Kampf», «Flucht» oder «Erstarren» (bzw. Dissoziation).
«Es ist nicht späte Nacht, es ist bloss früh am Morgen» (Schlafprobleme/Handysucht)
Wenn Sie ADHS haben, ist die Wahrscheinlichkeit gross, dass Sie auch unter Schlafproblemen leiden. Das muss nicht immer nur Schlaflosigkeit/wenig erholsamen Schlaf bedeuten. Sie können auch auf Netflix bis tief in die Nacht einer Serie nachhängen oder sich am Smartphone stundenlang mit irgendwelchen Themen beschäftigen, ohne überhaupt zu merken, wie die Zeit vergeht. Weil Ihnen Smartphone, TV, PC etc. einen Dopaminkick verschaffen (> innere Ruhe).
Paradoxerweise führen Stimulanzien bei ADHS meist zur innerlichen Beruhigung statt zu motorischer Stimulation. Menschen mit ADHS schlafen problemlos nach einem doppelten Espresso ein – oder nach einer abendlichen Dosis Ritalin/Amphetamin-basierter Medikation, welche bei neurotypischen Personen zu Herzklopfen und «im Bett stehen» führen würde.
«Das war noch längst nicht alles. Da ist eine Ratte im Team» (Komorbiditäten)
Personen mit untherapierter ADHS gehören zur Risikogruppe für psychische Erkrankungen – darunter Angstzustände, bipolare Störungen, Depressionen und Suchtmittelprobleme. Diese sogenannten «Komorbiditäten» sind eine Reaktion von Körper und Seele auf den andauernd erhöhten Stresspegel. Über 80 Prozent der Erwachsenen mit ADHS leiden unter mindestens einer psychischen Begleiterkrankung, 60 Prozent sogar unter mehreren.
Erwachsene mit nicht erkannter/behandelter ADHS haben zudem ein deutlich erhöhtes Risiko, Substanzmissbrauch zu betreiben. Eine Überprüfung der Literatur offenbart hohe Raten von Alkoholmissbrauch (17 bis 45 Prozent) und Drogenmissbrauch (9 bis 30 Prozent). Dieses Phänomen wird als «Selbstmedikation» bezeichnet. Es kann mitunter von heute auf morgen verschwinden, wenn ADHS-Betroffene sich professionelle Unterstützung suchen – und ein Medikament finden, das sie gut im Alltag vertragen.
«Waren Sie mit der Verdächtigen intim, Spencer?» (Risikoverhalten)
ADHS-betroffene Mädchen und Frauen werden wesentlich häufiger ungewollt schwanger. Sexuell übertragbare Krankheiten sind ebenfalls häufiger. Die ständige «Suche nach dem Kick» (Sensation Seeking) ist bei ADHS ein geschlechterübergreifendes Phänomen.
Das Risiko, im Strassenverkehr zu verunglücken, ist für ADHS-Kinder drei Mal so hoch wie für Kinder ohne Aufmerksamkeitsdefizit- oder Hyperaktivitätsstörung. Adulte ADHS-Patienten bauen häufiger schwere Autounfälle, was auch auf tiefere Impulskontrolle zurückzuführen sein dürfte.
Schliesslich haben in Gefängnissen 20 und mehr Prozent der Insassen eine ADHS-Diagnose, während es in der allgemeinen Bevölkerung gerade einmal 5% sind. Einerseits begünstigt das Syndrom - wenn untherapiert - Risikoverhalten, andererseits erfahren Menschen mit ADHS auch ungleich öfter Zurückweisung, Mobbing und soziale Ausgrenzung - was wiederum zu Frust und Aggressionen führt.
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