Vormachen muss man sich nichts: ADHS ist eine Abweichung vom «Normalen». Doch Wissen ist ein Segen, falls Sie den dringenden Verdacht haben. Aus folgenden Gründen profitieren mögliche Betroffene wie Angehörige von einer Abklärung.
Grund 1: Es wartet kein hartes Urteil – sondern beruhigende Klarheit
Falls Sie Ihr Kind auf ADHS testen lassen wollen, dürfte das eine Vorgeschichte haben, in der Leiden und Unverständnis zwei grosse Rollen gespielt haben. Der Klassiker in dem Zusammenhang ist das hyperaktive Kind, oft ein Junge, der bei den Kameraden aneckt, in der Schule Mühe bekundet – und die Eltern mit seiner überbordenden Impulsivität überfordert. Doch es gibt auch das Träumer-Kind; statistisch gesehen häufiger Mädchen, das aufgrund seiner «Seltsamkeit» Ausgrenzung und/oder Mobbing erfährt, sich aus Sicht der Lehrer «mehr bemühen und integrieren lernen sollte» – und manchmal gar nicht unbedingt durch schlechte Noten auffällt, als vielmehr durch seine Tendenz, mit einem Augenaufschlag scheinbar mühelos aus dem Hier und Jetzt verschwinden zu können. «Aufweckbar» bloss durch lautes Zurufen oder Zupfen am Pullover.
Diese Kinder sind nicht in erster Linie nur «zu laut, zu aktiv oder zu verträumt und abwesend». Das alleine wäre auch kaum ein Grund, jemanden auf ADHS zu testen. Diese Kinder verpassen oft auch den Anschluss an ein gesundes soziales Umfeld, sie riskieren eine gescheiterte Schulkarriere – und können sich sogar in der eigenen Familie missverstanden fühlen.
Kurz gesagt: Diese Kinder leiden selbst oft stark unter ihrer Unaufmerksamkeit, Hyperaktivität bzw. inneren Nervosität und ihrer überbordenden, für sie selbst nicht verständlichen Impulsivität. Sie können, unter den gegebenen Umständen, auch ihr Potenzial wohl nur schwerlich entfalten. Denn im Dauerstress sind Körper und Psyche nicht auf Entfaltung aus – stattdessen wird das eigene Überleben sichergestellt. Mit Reaktionen wie Wut/Kampf, Flucht/Rückzug oder Dissoziation/Erstarren.
JA: Das Resultat eines ADHS-Tests kann leichtes, mittleres oder schweres ADHS sein. Doch das ist nur das Etikett. Den Inhalt, also die täglichen Symptome, kennen Sie schon längst. Und was nach der Diagnose folgen wird, ist eine individuell abgestimmte Therapie, die ihrem Kind (oder Ihnen) – ja wohl der ganzen Familie – ein angenehmeres Leben bescheren kann. Die Möglichkeiten, mit ADHS umzugehen, sind sehr vielfältig – die Einnahme von Medikamenten ist nur eine davon – und auch nicht in jedem Fall nötig.
Grund 2: Sie lassen ein Kind untersuchen – und verbessern die Chancen eines Erwachsenen
Die Prävalenz von ADHS in der Bevölkerung beträgt ungefähr 5 Prozent, also jede/jeder Zwanzigste. In den Gefängnissen hingegen haben 20% der Insassen ein ADHS, also jeder Fünfte. Will heissen: Unbehandeltes ADHS erhöht deutlich die Chance, später straffällig zu werden. Man muss auch kein Psychologieprofessor sein, um zu erkennen, dass hohe, oft kaum steuerbare Impulsivität zu «unüberlegten Taten» führt, dass soziale Ausgrenzung/Mobbing in einem Menschen ein dunkleres Bild von seinen Mitmenschen gedeihen lassen – und dass Schicksalsschläge wie Verkehrsunfälle, wüste Scheidungen und Arbeitsplatzverluste einen im Leben die Hoffnung fahren lassen können.
Doch genau die letztgenannten drei Dinge kommen bei Menschen mit ADHS ebenfalls häufiger vor als bei Neurotypischen. Zudem leiden ADHS-Betroffene um ein Vielfaches öfter an Begleiterkrankungen wie Süchten, Depressionen oder Angststörungen. Diese sogenannten Komorbiditäten sind entweder Versuche, sich selbst zu therapieren (im Fall der Süchte) – oder es sind Reaktionen des Körpers und der Psyche auf die zu hohe Belastung, die ein unbehandeltes ADHS mit sich bringt (Depressionen, Angststörungen etc.).
Der Autor dieses Beitrags selbst wünscht sich manchmal, dass sein ADHS früher bekannt gewesen wäre. Vermutlich wäre ihm dann viel Leiden erspart geblieben. Nun muss das nicht immer positiv sein, denn Leiden kann auch den eigenen Charakter stärken. Die Statistik (zum Glück selber nicht Teil davon…) zeigt aber klar, dass komplett unerkanntes und unbehandeltes ADHS öfter zum persönlichen Scheitern führt als sonst wohin. Und das möchte man seinem eigenen Kind ja so gut es geht ersparen.
Grund 3: Ihr Kind oder Sie selbst lernen Menschen kennen, die «zu Ihrem Stamm gehören»
Kennen Sie das Gefühl, wenn Sie sich mit neuen Bekanntschaften so fühlen, als wären Sie schon monate- wenn nicht jahrelang mit diesen Menschen befreundet und würden sie in vielerlei Hinsicht «wortlos verstehen». Ja, das kann das Gefühl von Liebe oder Freundschaft sein. Es kann aber auch der Zustand sein, den Sie erleben werden, wenn Sie auf Leute treffen, die ebenfalls eine ADHS-Diagnose haben. «Ach, diese Dinge kannst Du auch so gut und diese weniger?», «Was, DAS hast Du ebenfalls erlebt?», «Echt, das magst Du auch so gerne?» sind nur einige der Sätze, die dann fallen werden.
Es fühlt sich alles ein bisschen so an, als hätten Sie gerade «Ihren Stamm gefunden», den Sie schon ein Leben lang gesucht haben. Man nennt es soziale Integration, starke Gruppendynamik, emotionale Resonanz usw. Für Sie wird es sich aber eher wie VERBUNDENHEIT anfühlen. Kann es sein, dass Sie sich danach schon länger gesehnt haben? Ist es möglich, dass Sie auf diverse soziale Aktivitäten schon länger verzichtet haben, weil Sie dachten, dass Sie DIESES GEFÜHL sowieso nirgends finden werden?
Nun, diese Zeit ist vorbei, sobald Sie ein- oder mehrere Male an einem Treffen einer ADHS-Dachorganisation bzw. Beratungsstelle wie elpos oder ADHS 20+ teilgenommen haben. Danach müssen Sie wohl eher die Agenda/das Handy zücken, um Ihre nächsten Treffen zu organisieren. Mühsame administrative Arbeit, ja. Aber besser als das Vereinsamen vor dem Smartphone, dem Gaming-Screen oder dem TV ist das eben doch.
Ihrem Kind dürfte es übrigens genau gleich gehen, falls es sich mit anderen ADHS-Kindern in einer Bastelgruppe, zum Musik machen oder an einem anderen Kreativ-Nachmittag trifft. Nur, dass es das einmalige Gefühl eventuell noch nicht so klar in Worte zu fassen vermag. Es kann aber gut sein, dass Ihr Sohn/Ihre Tochter sehr schnell diverse neue Freundschaften knüpft, während Sie sich mit einer anderen Mutter/einem anderen Vater bestens unterhalten, die/der Ihnen für einmal kein Unverständnis entgegenbringt oder «nur gut gemeinte» Erziehungstipps auf Lager hat. Mit einem Elternteil eben, das genau weiss und mitfühlt, was die Erziehung eines Kindes mit ADHS so für Freuden und Leiden bereithält.
Das kann alles enorm gut tun und einen persönlich wachsen lassen.
Und genau deshalb lohnt sich auch eine ADHS-Abklärung, falls Sie den dringenden Verdacht haben – oder Lehrpersonen/SchulpsychologInnen sich dahingehend geäussert haben.
Verlieren können Sie kaum etwas. Gewinnen aber können Sie sehr viel...
Grund 4: Mit dem haben Sie jetzt nicht gerechnet
Vielleicht hat Ihr Kind bzw. haben Sie auch gar kein ADHS. Jede seriöse Untersuchung, die im Allgemeinen aus einem mehrstufigen Prozess besteht (Gespräche, Fragebögen, Beobachtung, neurologische Tests etc.) sollte nur das zutage fördern, was auch da ist. Und ADHS betrifft nun mal bloss jede 20-igste Person. Also so, als würden Sie blind in eine Schachtel mit 19 Bleistiften und einem Farbstift greifen - und den Farbstift hervorholen. Ja, der Vergleich ist nun etwas tendenziös. Doch je mehr Menschen gleichen Schlages Sie kennenlernen werden, werden Sie sehen: Er hat was...