Mutter und Sohn

3 Dinge, die Sie nicht vergessen sollten, wenn Ihr Kind ADHS hat

Unser Alltag ist auch ohne spontane Wutanfälle schon oft hektisch genug. Kein Wunder, wenn die Erziehung eines ADHS-Kindes Sie also an Ihre Grenzen – und darüber hinaus – bringt. Folgende Punkte sollten Sie als Eltern aber im Hinterkopf behalten.

1. Das Gehirn Ihres Kindes tickt anders. Punkt.

Medizinisch betrachtet ist der Fall ziemlich klar: Das ADHS-Gehirn bekundet Mühe mit dem System der sogenannten «vorderen Aufmerksamkeit» (Stirnhirn), das die bewusst gelenkte Konzentration ermöglicht. Die «hintere Aufmerksamkeit» (limbisches System, alte Hirnteile) ist dagegen zu stark aktiviert – die willentliche Konzentration ist beeinträchtigt, Umweltreize können sofort das eigene Verhalten in andere Bahnen lenken, heftige emotionale Reaktionen sind nur einen Steinwurf entfernt. Warum? Diese alten Hirnteile haben schlicht immer Priorität gegenüber dem, was wir gemeinhin als Verstand/Ratio bezeichnen. Erst nachher gibt das Stirnhirn «seinen Senf dazu». Denken Sie nur kurz an sich selbst, wie Sie vielleicht tief versunken ein Buch lesen, während Ihr Baby längst schläft. Nun vernehmen Sie einen erstickten Schrei aus dem Kinderzimmer. Natürlich blättern Sie ruhig weiter, denn das nächste Kapitel klingt so spannend...

Das tun Sie nicht?

Genau – alles andere wäre auch ziemlich «krank». Ihr Gehirn hat gerade vorzüglich funktioniert. Ihr biologisch gesehen «altes Aufmerksamkeitsnetzwerk» hat Sie vor einer Gefahr gewarnt, vielleicht wird auch bereits Adrenalin mobilisiert. Das Mindeste, was Sie nun unternehmen werden, ist wohl erneut genau hinhorchen. Wahrscheinlich gehen Sie aber auch rasch ins Kinderzimmer und schauen nach dem Rechten.

Nun wissen Sie, wieso Ihr Kind mit ADHS – dessen hinteres Aufmerksamkeitssystem überaktiv ist – sich wieder mal von einem Kinderrufen im Quartier hat ablenken lassen – oder vom Vogel auf der Fensterbank. Für Sie mag es ein kleiner Reiz gewesen sein. Für das Gehirn Ihres Kindes ist es «von vitalem Interesse». Denn genau das ist auch die Aufgabe der alten Hirnteile. Sie fühlen sich weder für Englischwörter noch Mathe-Aufgaben oder eine Diktatübung besonders zuständig. Sie sichern statdessen tagtäglich unser Überleben – durch «Vigilanz» und bei Bedarf passende, sehr schnelle Reaktionen – wie Kampf, Flucht oder Erstarren.

Hausaufgaben

2. Ihr Kind leidet wohl stärker unter seinen ADHS-Symptomen als Sie

Wieder eine Mutter im Quartier, die Ihr Kind nun wohl für einen schlecht erzogenen Wüterich hält. Nochmals 60 Franken, weil das neue Turnzeug zwar den Weg in die Schule gefunden hat, nun aber spurlos verschwunden bleibt. Erneut ein Gespräch mit der Lehrerin, weil Ihre Tochter sich in der Schule partout jeglicher «Gruppendynamik» verweigert.

Das ist hart, keine Frage.

Und es ist Ihre Perspektive.

Hier eine Zweite:

Wieder diese Welle der Wut und dann die fliegenden Hände. Nun weint Freund Jonas, obwohl man ihn doch so gerne mag. Und beide Mütter schauen so anders. Jene von Jonas schaut kalt, angeekelt. Die eigene Mama schaut traurig.

Wieder dieses unerträgliche Gefühl von Scham, so dass man im Boden versinken möchte. Das Turnzeug war da, dann war es plötzlich nicht mehr da. Keine Ahnung, wo man es gelassen haben könnte. Man denkt so angestrengt nach, wie man nur kann. Doch es ist einfach alles «gelöscht».

Wieder dieses Gefühl von «zuviel». Das ganze Geplapper, die lauten Geräusche. Das Stillsitzen ist unerträglich. Ziehende Nervosität macht sich im ganzen Körper breit. Nun fragt die Lehrerin auch noch etwas. Ich weiss es nicht. Ich möchte nur wegrennen – aber ich darf ja nicht.

Das ist die Perspektive Ihres Kindes auf die obgenannten drei Situationen. Wutanfall, verlorene Turnsachen, Gruppenarbeit.

Vergleiche sind nicht unbedingt nötig. Zudem ist Leiden etwas individuell Verschiedenes. Doch klar dürfte sein: Auch Ihr Kind genoss jeweils nicht gerade eine Streichelstunde auf dem Ponyhof.

Mutter und Kind am Tisch

3. Sie und Ihr Partner machen den grossen Unterschied

Fast 10 Monate ist Ihr Kind in Ihrem Leib gewachsen und gereift. Dann wurde es geboren, mit einem Kopf und einem Gehirn wie Sie. Wenn man es so anschaut, ist da alles dran, vollendet – und es ist wunderschön. 

Nur: Das Gehirn Ihres Kindes ist bei der Geburt noch völlig unreif. Und das wird es auch noch eine gute Zeit bleiben, selbst wenn es täglich in einem beachtlichen Tempo neue Dinge erlernt. Versuchen Sie Ihrem Zweijährigen zum Beispiel Selbstregulierung und Vernunft beizubringen – und Sie könnten genauso gut versuchen, einen Pudding an die Wand zu nageln. Bestrafen Sie einen 5-Jährigen immer wieder mit lautem Schimpfen, Liebesentzug oder Strafen – und er wird kaum etwas dazulernen, ausser die emotionale Botschaft «ich bin nicht in Ordnung». Die wird dafür dann so richtig gut abgespeichert. Und damit legen Sie eine tolle Basis für lebenslange emotionale Probleme oder spätere Straffälligkeit.

Was Ihr Kind besser versteht: Ruhig oder auch bestimmt vorgetragene emotionale Botschaften, immer wieder aufgezeigte (und dann eingehaltene) klare Grenzen. Eine Umarmung am Schluss eines Wutanfalls, der zu vielen Tränen geführt hat. Präzise formulierte Wenn-Dann-Aussagen, die auch wirklich in Wenn-Dann-Aktionen resultieren, recht unabhängig von Mamas oder Papas Laune. Und nochmals: Das Gefühl, «trotz allem» geliebt zu werden. Immer. 

Das hat auch rein gar nichts mit «antiautoritärer Erziehung» zu tun. Und also auch nichts mit «Kevin-Kenley Problemian kratzt halt so gerne Strichmännchen, drum ist unser Auto ein bisschen 'verziert'». Nein, dieser Erziehungsstil wird «autoritativ» genannt. Er kombiniert klare Regeln und Grenzen mit viel Liebe und Zuneigung. Es gibt noch eine Generation, welche diesen Ansatz besonders bei Buben (teilweise) als «gefährlich» ansieht. Man würde die angehenden Männer verweichlichen. Und Jungs sollten keine bitteren Tränen weinen, sondern sich zusammenreissen. Erstens hat diese Generation gefährliche und harte Zeiten zum Teil noch als Kind miterlebt (den zweiten Weltkrieg). Zweitens wurde die Idee längst überzeugend widerlegt. Und drittens kann man sich unschwer vorstellen, wie die Selbstliebe, die geliebten Kindern mitgegeben wird, problemlos vom wärmenden Bauchgefühl zum verzehrenden Höllenfeuer werden kann, wenn diese Kinder mal erwachsen sind – und sich z.B. wehren müssen. Denn Liebe ist Kraft.

Zudem ist autoritativ erziehen auch keine Erfindung gewiefter Psychologen, die ein neues Wort in die Welt tragen wollen, weil sie so gerne klugscheissen. Der Beweis: Disziplin. Das Wort kommt von «discipulus», also Schüler, Lehrling, Jünger. Nun kann es natürlich sein, dass die 12 Jünger/Apostel Jesus Christus gefolgt sind, weil er oft lautstark herumfluchte, ihnen Ohrfeigen verteilte und das Gefühl gab, sie seien nicht ok. Überliefert ist es aber anders. Er wurde respektiert, geachtet und geliebt, weil er so handelte, wie er sprach, viel Liebe verteilte und dennoch ganz klare Grenzen zog. Ein autoritatives Vorbild eben.

Kind am Fenster

Bis ins fortgeschrittene Alter von ca. 25 Jahren reifen die Strukturen in unserem Kopf, die es uns erlauben, «vernünftige Entscheidungen» zu treffen, welche uns – und manchmal auch der Allgemeinheit – zu Gute kommen. Die Kindheit ist für die Reifung des Gehirns die absolut wichtigste Zeit. Und SIE gehören zu den wichtigsten Personen, welche diese Reifung beobachten und begleiten.

In der Kindheit und Jugend entscheidet sich also, ob die Kommandozentrale (Stirnhirn) genügend Strukturen ausbilden kann, welche den Impulsen aus den alten Hirnregionen («kämpfe!», «flüchte!» «erstarre!) in brenzligen Situationen genügend andere Optionen entgegensetzen. Impulse, die ein vernünftiges Handeln erlauben, obwohl man die eigenen Emotionen durchaus bemerkt, gefühlt und komplett gewürdigt hat.

Ein Zusammenspiel übrigens, das ein Leben lang «kein Waldspaziergang ist». Nicht umsonst pilzen Angebote wie «Wut ausleben», «Traumaarbeit», «Die eigene Mitte finden», «Endlich ganz werden» aktuell geradezu aus dem Boden. Einerseits, weil mehr Wissen über unsere neuronale Entwicklung da ist. Andererseits, weil wir auch tatsächlich bis ins hohe Alter noch viel dazu lernen und alte, überholte Muster ablegen können. Neue Erfahrungen wie eine Fremdsprache erwerben, ein langer Auslandaufenthalt, ein Instrument lernen etc. bauen unser Gehirn in gewissen Bereichen regelrecht um (unter dem Mikroskop sichtbar).

Unglaublich eigentlich, denn unsere Finger oder Füsse verändern sich ja kaum noch – sie werden nur grösser und älter. Aber dort gehen eben auch nicht unzählige Nervenzellen miteinander in Verbindung, so dass am Schluss ca. 100 Billionen (hunderttausend Milliarden) synaptische Verbindungen bestehen.

Apropos Verbindung: Wichtig ist vor allem eine – nämlich jene zu Ihrem Kind, ob von ADHS betroffen oder nicht. Wir hoffen, dass wir mit diesem Text ein wenig dazu beitragen konnten.

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